Nicolas Lindt

Schriftsteller & Ritualgestalter

«Ich schreibe Bücher, erzähle Geschichten und gestalte Rituale im Namen der Liebe.»

Wald, 15. Oktober 2024   |   DIE LUFTPOST Ein Blick zurück
Wald, 15.10.2024   |   DIE LUFTPOST Ein Blick zurück

Wer den Frieden will...


«Wer den Frieden will, muss ihn brechen»

Die letzte grosse Friedenskundgebung in Bern 1981 - und meine ungeplante Erstürmung des Rednerpults

Schon die letzte grosse nationale Friedenskundgebung fand am 5. Dezember 1981 - vor über 40 Jahren - in Bern vor dem Bundeshaus statt. 30-40'000 Menschen forderten ein Ende des Wettrüstens, das damals in Europa zu Recht als reale Bedrohung empfunden wurde. An der Kundgebung nahm auch ich teil (im Bild ganz links in der Mitte). Hinter mir lag das Jahr 1980, das als «Jahr der Bewegung» in die Zürcher Geschichte einging, und das Jahr 1981, als ich mit anderen zusammen die «WochenZeitung» WoZ gründete.

Die Grundstimmung, in der wir uns damals alle befanden, war pessimistischer, als sie es heute ist, denn es gab keine Freiheitsbewegung, die uns Mut machen konnte. Die Zürcher «Bewegung» mit ihrer hoffnungsvollen, kreativen Spontanität hatte ihre Kraft bereits aufgebraucht. Vor uns lag eine ungewisse Zukunft, die vom Wettrüsten der Supermächte geprägt war und immer näher an das reale Jahr 1984 rückte, von dem wir schon damals befürchteten, die düstere Prophezeiung von George Orwell könnte Wirklichkeit werden.

Immerhin wurde durch die Gründung der WoZ zum erstenmal eine ernstzunehmende Alternative zur etablierten Presse geschaffen - was auch ich als Hoffnungsschimmer betrachtete.

«Mitten in dieser Endzeitstimmung» machte ich mich am 5. Dezember auf den Weg nach Bern. In der noch ganz jungen WoZ schilderte ich einige Tage danach die Ereignisse, wie ich sie erlebt hatte.

Wer den Frieden will, muss ihn brechen
Aus der WoZ vom 11.12.1981

«Vielleicht war dieses Gefühl, dass der Boden unter unseren Füssen nachgab, der eigentliche Feind...»
(Doris Lessing, Memoiren einer Überlebenden)

Alle gingen nach Bern. Wie zu erwarten war. Die SBB setzte Extrazüge ein. Erwartungsgemäss. Schon am Bahnhof herrschte dichtes Gedränge. Erwartungsgemäss. Es war die grösste Demonstration, die Bern je erlebt hatte. Die Polizei hielt sich diskret im Hintergrund... Die verschiedensten Transparente wurden mitgeführt... Darunter auch Originelles und Ausgefallenes. ... Auf dem Bundesplatz wurden mehrere Reden gehalten. ... Einige Demonstranten sprayten Sprüche ans Bundeshaus. ... Zum Abschluss wurde eine vorbereitete Resolution verlesen. ...Es war kalt, erwartungsgemäss.

Im rumänischen Bukarest fand am gleichen Tag ebenfalls eine Friedensdemonstration statt. Sämtliche Parteimitglieder waren mobilisiert worden: Sorgfältig präparierte Massenkundgebung, von oben diktiertes Ritual. Die Friedensdemo in Bern war nicht von oben diktiert, aber sogar in der Tageszeitung standen die Abfahrtszeiten der Züge. Die SBB hatte spezielle Billette mit dem Vermerk «Friedensmarsch» drucken lassen. Die Demo war mehr als nur erlaubt. In einer Zeit, wo der Krieg vorbereitet wird, sind Friedensdemonstrationen erwünscht. Sie passen gut ins Bild, sie runden es ab. Das Ganze kam mir vor wie eine grosse Inszenierung. Und wir die Statisten. Die Friedensmarschierer.

Ich stand zwischen Zehntausenden auf dem Bundesplatz und fragte mich, für welchen Frieden hier demonstriert wird. Geht es um den Frieden, den wir haben oder um einen Frieden, den wir anstreben? Wenn es darum geht, den heutigen Friedenszustand zu verteidigen, bin ich dagegen. Diesen Frieden will ich nicht. Es herrscht Krieg in unseren Städten (und nicht nur in den Städten), aber die Menschen verhalten sich so, wie wenn nichts wäre. Sie marschieren zur Arbeit und sie marschieren sogar für den Frieden. Das Leben nimmt seinen gewohnten Gang.

Wenn die Menschen sagen, wir haben Angst vor dem Krieg, kann das auch heissen, dass sie Angst vor Veränderung haben. Angst vor dem Unberechenbaren und Ungewohnten. Angst vor dem Ausnahmezustand. Die Menschen wollen nicht wahrhaben, dass die Ausnahme genauso zum Leben gehört wie die Regel. Wenn die Menschen weniger Angst vor der Ausnahme hätten, wären sie vielleicht nicht so verkrampft. Dann gäbe es vielleicht weniger Krieg…

Ein neuer Weltkrieg bricht nicht einfach aus, weil Reagan oder Breschnew Kriegstreiber sind und eines Tages den Befehl zum Knopfdruck geben. Zu einem Weltkrieg kommt es, wenn Kriegsstimmung herrscht, wenn der «Friedenszustand» so verlogen und verfault ist, dass er unerträglich wird.

Vor dem Krieg habe ich weniger Angst als davor, dass alles so bleibt, wie es ist. Manchmal habe ich geradezu Sehnsucht nach dem Krieg, weil er dem heutigen Zustand ein Ende setzen würde. Ich möchte nicht nur überleben, ich möchte leben. Lieber Krieg als ein «Friede», der uns nicht leben lässt. Der Friede, den ich mir wünsche, ist ein ganz anderer. Aber er entsteht nicht von selbst, nicht friedlich-harmonisch, sondern nur durch einen Bruch mit dem heutigen Zustand. Die «Bewegung» in Zürich konnte diesen Bruch nicht herbeiführen, sie löste erst einige Risse aus… Was ich mir wünsche, ist ein allgemeiner Notstand, dem sich keiner mehr entziehen kann, der ins Leben aller eingreift und die schweigende Mehrheit zum Reden, zum Schreien, zum Handeln bringt!

Eigentlich, überlegte ich mir, müssten wir in Bern eine Kriegserklärung verabschieden. Der Notstand im eigenen Land müsste ausgerufen werden, heute schon. Wir selber müssten mit dem tödlichen «Frieden» brechen, bevor er durch einen Weltkrieg gebrochen wird. Vielleicht können wir so am ehesten den Krieg verhindern, wenn wir alle weniger friedlich sind. Wenn wir nicht leben, als ob nichts wäre, sondern leben, weil etwas ist, mit offenen Augen.

Auf dem Bundesplatz redeten sie, wie wenn nichts wäre. Sie hielten sich alle an die Spielregeln. Erwartungsgemäss. Als der Schriftsteller Lukas Hartmann, Mitglied des Organisationskomitees, die Schlussresolution verlas, halte ich es nicht länger aus. Ich dränge mich nach vorne zur Rednertribüne und falle Hartmann ins Wort:

«Ich habe noch einen Zusatzantrag –»

« Von wem denn...??»

« Von mir –»

Hartmann versucht das Mikrofon wieder an sich zu reissen, aber den einen Satz kann er nicht verhindern:

«Die Abschaffung der Armee gehört auch in die Resolution!»

Die Stimmung auf dem Platz schlägt um – zuerst Jubel und Beifall, dann ein Sprechchor, der immer lauter wird: Abschaffe, abschaffe! Nach einer Weile teilt Hartmann mit:«Das Organisationskomitee ist im Aufruhr... Wir haben doch die Resolution ausführlich diskutiert und darüber entschieden, der Text liegt bereits gedruckt vor... Wir können doch jetzt nicht einfach... Wir sind überfordert...» Er wird von Buhrufen übertönt, dann hört man ihn sagen: «Wir glauben, dass die Leute weiter hinten auf dem Platz die Forderung gar nicht verstanden haben...?!» Wieder Buhrufe und wieder der Sprechchor Abschaffe, abschaffe, der alles andere übertönt. Handgemenge auf der Tribüne - jemand hat sich das Mikrofon ergattert und kritisiert das Demokratieverständnis der Organisatoren. Dann versucht Lukas Hartmann wieder, sich Gehör zu verschaffen und schlägt schliesslich eine Abstimmung vor.

So kommt es zu einem echt demokratischen Entscheid: Mit grossem Mehr wird am 5. Dezember 1981 auf dem Berner Bundesplatz die Abschaffung der Schweizer Armee beschlossen. Die Friedensdemonstration, die so erwartungsgemäss begonnen hat, nimmt ein unerwartetes Ende. Die Stimmung auf der Heimfahrt ist gut. Wer den Frieden will, muss ihn brechen.

Am Montag schrieb der Zürcher «Tages-Anzeiger»: «Die Abschaffung der Armee ist eine politisch völlig unrealistische Forderung.» Die Bürger haben es lieber, wenn wir realistisch bleiben. Das «Unrealistische» ist unsere stärkste Waffe.»

Auch 40 Jahre danach wird niemand darüber erstaunt sein, dass meine Schilderung seinerzeit eine Flut von Leserbriefen zur Folge hatte. Während die einen Verständnis zeigten, beschimpften mich die andern als Kriegstreiber. Und natürlich fällt es heute noch leicht, durch das Zitieren einzelner, aus dem Zusammenhang gerissener Worte - «Manchmal habe ich geradezu Sehnsucht nach dem Krieg» – die Aussage meines Kommentars zu entstellen. Schon der zweite Teil des Satzes - «…weil er dem heutigen Zustand ein Ende setzen würde» - korrigiert die Entstellung, und der ganze Kommentar lässt aus meiner Sicht keinen Zweifel daran, worum es mir geht: «Vielleicht können wir so am ehesten den Krieg verhindern, wenn wir alle weniger friedlich sind.»

Wenn wir alle weniger friedlich sind. Oder in heutigen Worten: Wenn wir alle nicht mehr dem Mainstream folgen.

*

Die «unrealistische» Utopie einer Schweiz ohne Armee würde ich heute, 40 Jahre danach, nicht mehr als politische Forderung formulieren. Aber die Überlegung von damals gefällt mir noch immer, dass unser Land als Vorbild für die Welt vorangehen und seine Armee abschaffen könnte. Wer sonst, wenn nicht die - zumindest bisher - neutrale Schweiz könnte sich diesen Schritt erlauben? Ich bin überzeugt, dass wir dadurch keinen Schaden erleiden würden. Ich bin überzeugt, kein Nachbarstaat wäre so niederträchtig, unsere Blösse auszunützen und uns anzugreifen. Dass die Abschaffung der Armee eine Spekulation ist, die ich politisch nicht verantworten möchte, ist mir natürlich bewusst. An der Notwendigkeit jedoch, solche Gedanken zu denken, halte ich fest.

Und ich stehe auch immer noch hinter dem letzten Satz meines seinerzeitigen Kommentars: Dass das «Unrealistische» unsere stärkste Waffe bleibt. Deshalb hat die Friedenskundgebung vom 11. März 2023 vom Bundesrat nicht nur verlangt, auf  Unterstützungsgelder an die Ukraine zu verzichten. Sie hat auch ganz unrealistisch – ob durchsetzbar oder nicht - die vollständige Rückkehr der Schweiz zur Neutralität gefordert.