Nicolas Lindt

Schriftsteller & Ritualgestalter

«Ich schreibe Bücher, erzähle Geschichten und gestalte Rituale im Namen der Liebe.»

Wald, 16. April 2024   |   Bücher Die Ungehorsamen
Wald, 16.04.2024   |   Bücher Die Ungehorsamen

Eine beinahe wahre Geschichte

«Alle Blicke richteten sich gegen die Tür. Draussen hörten wir leise Stimmen. Was wir befürchtet hatten, war eingetroffen.»

Die Ungehorsamen
Erzählung aus dem Lockdown

Astrid und Chantal wollten heiraten. Doch ein Virus mit dem Namen Corona bringt die Welt zum Stillstand. Das öffentliche Leben wird von den Behörden geschlossen, jede Versammlung ist untersagt, mehr als 5 Menschen dürfen sich nicht mehr treffen. Auch in der Schweiz wird der Bevölkerung dringend nahegelegt, zu Hause zu bleiben.

Astrid und Chantal müssen ihre Hochzeit absagen. Aber das wollen sie nicht. Sie haben sich auf diesen Tag so gefreut, und sie beschliessen: Wir heiraten trotzdem. Wie geplant am 11. April. Mitten im Lockdown – an einem geheimen Ort im Toggenburg. Eine beinahe wahre Geschichte.


Aus dem Buch...

Seite 24
Am folgenden Tag, als sie wie üblich mit Bravo spazierengehen wollen, ist der Wanderweg, der in ihrer Nähe beginnt, mit rotweissen Bändern versperrt. Sie haben gelesen, dass beliebte Naherholungsgebiete überall nicht mehr zugänglich sind, damit sich die Menschen nicht nahe kommen und sich entscheiden, zu Hause zu bleiben. Ausserdem hat Chantal gesehen, dass die Schulhausanlage abgesperrt ist, der Spielplatz im Zentrum des Dorfes und die Bänke im kleinen Park. Sie hat es Astrid erzählt, und Astrid hat nur den Kopf geschüttelt und ihr Unverständnis zum Ausdruck gebracht.

Jetzt stehen sie vor den rotweissen Bändern, und Bravo schaut sie erwartungsvoll an, warum sie nicht weitergehen. Astrids Miene verrät ihren Unmut.

«Siehst du das?» sagt sie und zeigt auf die Absperrung. «Spinnen die jetzt total?»

Chantal bleibt ruhig, streichelt den wartenden Bravo und zuckt die Achseln. «Ich sehe es», antwortet sie, «und ich finde es genauso daneben wie du. Doch ehrlich gesagt, erstaunt es mich nicht, nachdem sie schon im Dorf alles versperrt haben.»

«Doch, mich erstaunt es. Schliesslich sind wir hier auf dem Land. Und ich dachte, hier läuft es weniger streng als in der Stadt. Aber dass sie sogar die Wanderwege absperren müssen, das macht mich wütend. Richtig wütend.»

Sagt es und drückt das Absperrband nieder, um es zu übersteigen. Chantal will Astrid zurückhalten, lässt sie dann aber machen und steigt selber über das Band, nachdem sie sich vergewissert hat, dass sie niemand beobachtet. Befreit, als hätten sie eine Last abgeschüttelt, schreiten sie aus und geben sich verschworen die Hand. Bravo springt übermütig vor ihnen her. Über den zurückeroberten Weg scheint auch er ganz erfreut zu sein.

Plötzlich bleibt Astrid stehen, löst sich aus Chantals Hand und sagt: «Wir heiraten trotzdem. Genau wie geplant.»

Chantal schaut sie verständnislos an: «Wie meinst du das – wir heiraten trotzdem?»

Astrid lächelt herausfordernd. In ihrer Miene blitzt so etwas wie Kampfeslust auf. «So wie wir dieses Absperrband überstiegen haben: Wir machen unser Hochzeitsfest trotzdem. Wir laden alle unsere Gäste ein, genau an dem Tag, an dem die Hochzeit geplant war. Am 11. April. Trotz Versammlungsverbot.»

«Bist du verrückt?» sagt Chantal. «Wie stellst du dir das vor? Und vor allem, wo?»

«Vielleicht bin ich verrückt. Aber ich lasse mir von denen nicht alles verbieten. Vor allem nicht, wenn ich den Sinn des Ganzen nicht sehe. Wir sind gesund, unsere Freunde sind gesund – warum also soll die Hochzeit verschoben werden? Ich will dich jetzt heiraten, Chantal, du willst es auch, und ich weiss auch schon einen Ort.»


Seite 35
In einem dieser Augenblicke voller Nachdenklichkeit meldete sich mein Telefon. Am Apparat war Astrid, und sie kam ohne grosses Vorwort zur Sache.

«Als ich dir anrief, um abzusagen», begann sie, «hast du mir doch gesagt, jetzt erst recht müsste man heiraten. Und dann hast du gesagt, du würdest uns trotzdem trauen. Meinst du das immer noch ernst?»

«Ja, klar», erwiderte ich überrascht, «wollt ihr denn trotzdem heiraten?»

«Genau», bestätigte Astrid, und ihre Stimme klang stolz und entschlossen. «Am 11. April. Trotz Lockdown.»

«Wirklich?» fragte ich ungläubig. «Ihr wollt es wirklich durchziehen?»

«Wir haben es uns überlegt, und wir fanden: Wir haben uns so gefreut auf die Hochzeit, dass wir sie nicht verschieben wollen. Vielleicht geht das noch lange so weiter mit diesem Virus. Zuletzt heiraten wir überhaupt nicht mehr.»

Ich brauchte keine Bedenkzeit. «Ich bin dabei», sagte ich. Die Trauung trotzdem zu machen, gab mir das gute Gefühl, dem Staat nicht mehr ausgeliefert zu sein. Astrid und Chantal mitten in diesem Lockdown zu trauen, war ein Protest. Mein Protest gegen die Eigenmächtigkeit der Regierung.


Seite 139
Ihr dürft euch jetzt küssen, wollte ich sagen – als plötzlich, mitten in der Konzentration auf das Brautpaar, der Motor eines rasch sich nähernden Autos zu hören war. Der Wagen hielt direkt vor dem Haus. Noch bevor das Motorengeräusch erstarb, zerriss ein Bellen die Hochspannung.

Das Gebell kam von Bravo, dem Hund, der in der hintersten Reihe zusammengerollt die Trauung bisher verschlafen hatte. Jetzt war er aufgesprungen und bellte drauflos. Tim gelang es, das Tier zu beruhigen, doch das vor dem Haus parkierende Auto und das Bellen von Bravo hatte uns alle aufgeschreckt. Alle dachten dasselbe, und am meisten erschrocken waren Astrid und Chantal. Eben noch im Höhenflug ihres Eheversprechens schwebend, standen sie nun, angstvoll horchend, vor ihren Gästen.

Währenddessen hatte Luc, der Vater von Astrid, den Raum schon verlassen, um nachzusehen. Wir hielten alle den Atem an, doch eigentlich wussten wir, wer gekommen war. Alle Blicke richteten sich gegen die Tür. Draussen hörten wir leise Stimmen.

Dann öffnete sich die Tür, und nur Astrids Vater trat wieder ein. In seiner Miene war nicht zu erkennen, welche Nachricht er für uns hatte.