Geschichten, die bleiben
Die Kunst der
kurzen Geschichte
Kurzgeschichten sind vergleichbar mit den Stücken auf einer CD. Sie haben 3 bis höchstens 5 Minuten Zeit, den Leser zu packen und zu erfreuen. Eine Kurzgeschichte ist kein Kapitel, sie muss für sich allein überzeugen, und ihr Sinn steht und fällt mit dem Ende. Wenn sie unbefriedigend aufhört, hätte man sie gar nicht erst schreiben müssen. Hier eine kleine Auswahl klassischer kurzer Geschichten.
In der Hotelhalle (Kurt Tucholsky)
In der Hotelhalle
Kurt Tucholsky
Wir saßen in der Halle des großen Hotels, in einer jener Hallen, in denen es immer aussieht wie im Film – anders tuts der Film nicht. Es war fünf Minuten vor halb sechs; mein Partner war Nervenarzt, seine Sprechstunde war vorüber, und wir tranken einen dünnen Tee. Er war so teuer, daß man schon sagen durfte: wir nahmen den Tee.
»Sehen Sie«, sagte er, »es ist nichts als Übung. Da kommen und gehen sie – Männer, Frauen, Deutsche und Ausländer, Gäste, Besucher ... und niemand kennt sie. Ich kenne sie. Ein Blick – hübsch, wenn man sich ein bißchen mit Psychologie abgegeben hat. Ich blättere in den Leuten wie in aufgeschlagenen Büchern.«
»Was lesen Sie?« fragte ich ihn.
»Ganz interessante Kapitelchen.« Er blickte mit zugekniffenen Augen umher. »Keine Rätsel hier – ich kenne sie alle. Fragen Sie mich bitte.«
»Nun ... zum Beispiel: Was ist der da?«
»Welcher?«
»Der alte Herr ... mit dem Backenbart ... nein, der nicht ... ja, der ...«
»Der?« Er besann sich keinen Augenblick.
»Das ist ... der Mann hat, wie Sie sehen, eine fulminante Ähnlichkeit mit dem alten Kaiser Franz Joseph. Man könnte geradezu sagen, daß er ein getreues Abbild des Kaisers sei – er sieht aus ... er sieht aus wie ein alter Geldbriefträger, den die Leute für gütig halten, weil er ihnen die Postanweisungen bringt. Seine Haltung – seine Allüren ... ich halte den Mann für einen ehemaligen Hofbeamten aus Wien – einen sehr hohen sogar. Der Zusammenbruch der Habsburger ist ihm sehr nahegegangen, sehr nahe sogar. Ja. Aber sehen Sie doch nur, wie er mit dem Kellner spricht: das ist ein Aristokrat. Unverkennbar. Ein Aristokrat. Sehen Sie – in dem Mann ist der Ballplatz; Wien; die ganze alte Kultur Österreichs; die Hohe Schule, die sie da geritten haben... Es ist sicher ein Exzellenzherr – irgendein ganz hohes Tier. So ist das.«
»Verblüffend. Wirklich – verblüffend. Woher kennen Sie das nur?«
Er lächelte zu geschmeichelt, um wirklich geschmeichelt zu sein; wie eitel mußte dieser Mensch sein! – »Wie ich Ihnen sage: es ist Übung. Ich habe mir das in meinen Sprechstunden angeeignet – ich bin kein Sherlock Holmes, gewiß nicht. Ich bin ein Nervenarzt, wie andere auch. Nur eben mit einem Blick. Mit dem Blick.« Er rauchte befriedigt.
»Und die Dame da hinten? Die da am Tisch sitzt und auf jemand zu warten scheint – sehen Sie, sie sieht immer nach der Tür ...«
»Die? Lieber Freund, Sie irren sich. Die Dame wartet nicht. Hier jedenfalls erwartet sie keinen. Sie wartet ... ja, sie wartet schon. Auf das Wunderbare wartet sie. Lassen Sie ... einen Moment...«
Er zog ein Monokel aus der Westentasche, klemmte es sich ein, das Monokel fühlte sich nicht wohl, und er rückte es zurecht.
»Das ist ... Also das ist eine der wenigen großen Kokotten, die es noch auf dieser armen Welt gibt. Sie wissen ja, daß die Kokotten aussterben wie das Wort. Die bürgerliche Konkurrenz ... Ja, was ich sagen wollte: eine Königin der käuflichen Lust. Minder pathetisch: eine Dame von großer, aber wirklich großer Halbwelt. Donner ... Donnerwetter ... haben Sie diese Handbewegung gesehen? Die frißt Männer. Sie frißt sie. Das ist eine ... Und in den Augen – sehen Sie nur genau ihre Augen an ... sehen Sie sie genau an ... in den Augen ist ein Trauerkomplex, ein ganzer Garten voller Trauerweiden. Diese Frau sehnt sich; nach so vielen Erfüllungen, die keine gewesen sind, sehnt sie sich. Daran gibt es keinen Zweifel. Fraglich, ob sie jemals das finden wird, was sie sucht. Es ist sehr schwierig, was sie haben will – sehr schwierig. Die Frau hat alles gehabt in ihrem Leben – alles. Und nun will sie mehr. Das ist nicht leicht. Kann sein, daß sich ein Mann ihretwegen umgebracht hat – es kann sein – das kann ich nun nicht genau sagen. Ich bin nicht allwissend; ich bin nur ein Arzt der Seele ... Ich möchte diese Frau geliebt haben. Verstehen Sie mich – nicht lieben! Geliebt haben. Es ist gefährlich, diese Frau zu lieben. Sehr gefährlich. Ja.«
»Doktor... Ihre Patienten haben nichts zu lachen.«
»Mir macht man nichts vor«, sagte er. »Mir nicht. Was wollen Sie noch wissen? Weil wir grade einmal dabei sind ...«
»Der da, Doktor, was ist mit dem?«
»Sehen Sie – das ist der typische Geldmann unserer Zeit. Da haben Sie ihn ganz. Ich könnte Ihnen seine Lebensgeschichte erzählen – so klar liegt die Seele dieses Menschen vor mir. Ein Raffer. Ein harter Nehmer in Schlägen. Der läßt sich nicht unterkriegen. Gibt seine Zeit nicht mit Klimperkram ab; liest keine Bücher; kümmert sich den Teufel um etwas anderes als um sein Geschäft. Da haben Sie den amerikanisierten Europäer. Mit den Weibern – Himmelkreuz! – Es ist sechs ... Seien Sie nicht böse – aber ich habe noch eine dringende Verabredung. Ich muß mir gleich einen Wagen nehmen. Zahlen! – Die Rechnung ...« verbesserte er sich. Der Kellner kam, nahm und ging. Der Doktor stand auf.
»Was bin ich schuldig?« fragte ich aus Scherz.
»Unbezahlbar – unbezahlbar. Alles Gute! Also ... auf bald!« Weg war er.
*
Da ergriff mich die Neugier, da ergriff sie mich. Noch saßen die analysierten Opfer allesamt da. Ich schlängelte mich an den Hotelportier heran, der von seinem Stand aus die Halle gut übersehen konnte. Und ich ließ etwas in seine Hand gleiten. Ich fragte. Und er antwortete:
Der österreichische Höfling war ein Nähmaschinenhändler aus Gleiwitz. Die große Hure mit dem Trauerkomplex eine Mrs. Bimstein aus Chikago – nun war auch ihr Mann zu ihr an den Tisch getreten, unverkennbar Herr Bimstein. Und der freche Geldmann war ein Dichter der allerjüngsten Schule –
Und nur der Psychologe war ein Psychologe.
Der deutsche Schriftsteller & Journalist Kurt Tucholsky lebte von 1890-1935.
zum AnfangHalt auf dem Felde (Kurt Tucholsky)
Halt auf dem Felde
Kurt Tucholsky
Erst fangen die Bremsen unter dem langen Wagen an, in tiefem Ton zu singen, dann läßt das regelmäßige Stuckern der Räder nach, die Fenster klirren nicht mehr so einschläfernd. Dann wird die Bewegung des Zuges langsamer, ganz vorsichtig zieht er nur noch einher – dann steht er.
Die nicht mehr ganz junge Engländerin in der perlgrauen Ecke des Coupes richtet sich halb hoch; sie ist schlank wie der Schaft einer Lanze, sie hat diskreten guten Geschmack, einen herrlichen Pelz, fleischfarbene seidene Strümpfe, einen hellvioletten Schatten in den Maschen und, aus Angst vor Eisenbahnräubern, eine schäbige, abgetragene schwarze Handtasche.
Sie läßt ihr Buch sinken und sieht hinaus. Sie lächelt – mit einem merkwürdigen untergründigen Lächeln. Was ist?
Da draußen steht vor ihrem Bahnwärterhäuschen die ganze kleine Familie! Er: ein strammer, junger Bursche, in Hemdsärmeln, nicht in Adjustierung, denn der Zug hält hier unerwartet, vorn steht ihm das Hemd über einer kräftigen Brust halb offen, seine Haut hat einen braunen Ton, seine Zähne blitzen, er lacht. Sie: eine ganz junge, verschüchterte Frau, zart, schmächtig, mit hellen, dünnen Haaren. Das Kindchen, das auf der Erde krabbelt und sich am Rock der Mutter festhält.
Alle drei sehen auf den Zug. Das Kind streckt die kleinen dicken Hände aus und will alles haben: die Eisenbahn, die vielen Leute an den Fenstern und den weißen Rauch über der Lokomotive.
Die junge Frau sieht ganz glücklich und beinah ein bißchen ängstlich auf die Reisenden. Das Abteil erster Klasse hält gerade vor ihr, ihre sehnsüchtigen Blicke sagen: Perlen! und Geld, so viel Geld! und Wein! und in hohen Sälen tanzen! Sie trinkt für ihr Leben gern Champagner.
Der junge Bahnwärter sieht die Leute an und lacht. Die Engländerin lächelt noch immer und zeigt eine Reihe großer Zähne. Plötzlich hat sie ein kräftiges Kinn, und die hellen Pupillen in den Augen weiten sich ... Sie ißt für ihr Leben gern Rindsbraten, gutes, kräftiges Fleisch mit Senf, auf ungehobeltem Tisch ... Einmal, in den Alpen, ist sie einem Mann begegnet, der kam von den Bergen herunter und hatte vier Wochen .allein da oben gelebt. Er hatte nach Erde geschmeckt, nach Quellwasser und sonnigen Steinen ... Das Kind kreischt in den Rauch, die schmächtige junge Frau starrt auf die reichen Leute, der Bursche lacht, und die Engländerin sieht noch immer fest auf den jungen Bahnwärter... So sehen sich alle ein paar Minuten an. Aber nun ruckt der Zug an und setzt sich langsam in Bewegung.
Der deutsche Schriftsteller & Journalist Kurt Tucholsky lebte von 1890-1935. Ohne den Text Tucholskys zu kennen, habe ich in meinem Buch "Aus heiterem Himmel" dieselbe Szene geschildert. "Der Halt" heisst die Geschichte bei mir, und auch der Schluss stimmt fast überein: "Langsam setzt sich der Eurocity wieder in Fahrt.(...) Zurück bleibt die Erinnerung an eine seltsam intime Begegnung."
Tu nur das, was du für recht hältst (Johann Peter Hebel)
Tu nur das, was du für recht hältst
Johann Peter Hebel
Ein Vater sprach zu seinem Sohne: "Komm, lieber Sohn, ich will dir die Torheit der Welt zeigen." Damit zog er seinen Esel aus dem Stall und sie gingen miteinander übers Feld, führten den Esel an der Hand und kamen in ein Dorf. Da liefen die Bauern zusammen und riefen:
"Seht doch, welche Narren das sind! Führen den Esel an der Hand und keiner sitzt drauf."
Als sie nun das Dorf hinter sich hatten, setzte sich der Vater auf den Esel und der Sohn führte das Tier an der Hand. Nach einer Weile kamen sie in ein anderes Dorf. Da sprachen die Bauern:
"Seht nur, der Alte reitet und der arme Junge muss zu Fuße nebenher laufen."
Sie zogen weiter und als sie vor das dritte Dorf kamen, stieg der Vater ab, hieß den Sohn aufsitzen und führte den Esel. Kaum waren sie etliche Schritte ins Dorf gekommen, da kamen die Bauern herzu und riefen:
"Ei, der kräftige Junge reitet und lässt den armen alten Vater zu Fuß gehen!"
Wie sie nun weiterritten und an das vierte Dorf kamen, befahl der Vater seinem Sohne, dass er sich hinten auf den Esel setze und er nahm vor ihm Platz. So ritten sie beide ins Dorf. Da kamen aber die Bauern zusammengelaufen, schimpften und schrien:
"Pfui über die Tierquäler! Sie sitzen alle beide auf dem Esel und wollen das arme Tier zu Tode reiten. Sollte man nicht einen Stock nehmen und beide herunterschlagen?"
Als sie nun zum fünften Dorf kamen, sprach der Vater: "Lieber Sohn, es bleibt uns nur noch eins übrig, nämlich dass wir dem Esel die Beine zusammenbinden, ihn über eine Stange hängen und ihn so tragen." Und so taten sie. Aber wie sie nun zum fünften Dorf kamen, da verhöhnten die Leute sie, schalten sie unsinnige Narren und jagten sie mit Steinwürfen zum Dorfe hinaus.
Da sprach der Vater zu dem Sohne: "Siehst du nun, lieber Sohn, die Torheit der Welt? Wie wir es auch gemacht haben, so ist es niemand recht. Es ist eben unmöglich, es jedem recht zu machen. Darum tu du immer nur das, was du für recht hältst - und lass die Leute reden."
Der aus Basel stammende Dichter Johann Peter Hebel lebte von 1760-1826.
Die Stiefel, die nicht passten
Die Stiefel, die nicht passten
Eine zeitlose Humoreske
Zwei sehr anständig gekleidete junge Männer erschienen eines Tages bei einem Schuhmacher in Valenciennes.
»Mein Herr«, sagte der Eine, »ich bin ein Fremder, und wünsche ein Paar Stiefel zu kaufen. Da mein Freund mir gesagt hat, Sie wären der beste Schuhmacher in der Stadt, wende ich mich an Sie. Ich muß in einigen Stunden wieder abreisen, und möchte die Stiefel sogleich haben.«
Der Schuhmacher führte die jungen Herren unter vielen Bücklingen in ein Nebenzimmer und zeigte ihnen mehrere Paare Stiefel. Der Fremde probierte einige aus und entschied sich dann für ein Paar, das ihm sehr eng war.
»Lieber Freund«, sagte sein Begleiter, »in einigen Stunden sind wir am Ziele unsrer Reise, warum willst du noch Stiefel kaufen, die nicht für dich gemacht sind?«
»Sie passen mir vollkommen.«
»Ich sage dir, sie passen dir nicht. Du kannst ja gar nicht darin gehen, du bist schon ganz heiß geworden.«
»Kein Wunder bei dieser Wärme. Machen Sie doch ein wenig die Thür auf, mein Herr.«
Der Schuhmacher that es. Doch der Freund des Käufers hörte nicht auf, die Stiefel zu tadeln; und als derjenige, der sie anprobiert hatte und gleich anbehielt, die Börse zog, um den Schuhmacher zu bezahlen, rief er aus:
»Es ist thöricht von dir, sie zu kaufen. Du wirst hinken. Die Stiefel sind abscheulich gemacht.«
»Das lügst du«, antwortete der Käufer erbost.
»Sage das noch einmal!« Und eine kräftige Ohrfeige begleitete diese Worte. Der Andere blieb ihm nichts schuldig, der Erstere lief dem Zweiten nach, und so kamen sie die Treppe hinunter, aus dem Hause hinaus und verfolgten einander bis ans Ende der Straße.
Der Schuhmacher sah ihnen nach, und auch er war beleidigt. »Abscheulich gemacht? Welche Frechheit!« Doch dann pries er den Tag und dachte bei sich: Hauptsache ist, ich verkaufe die Stiefel. Zu spät wurde dem guten Mann seine Dummheit bewusst. Die zwei Betrüger waren längst um die Ecke verschwunden – und mit ihnen die Stiefel, die nicht passten.
Aus dem "Humoristisch-Komischen Witz- und Caricaturenmagazin", erschienen in Leipzig 1844. Verfasser unbekannt.
Der kluge Richter (Johann Peter Hebel)
Der kluge Richter
Johann Peter Hebel
Ein reicher Mann hatte eine beträchtliche Geldsumme, welche in ein Tuch eingenähet war, aus Unvorsichtigkeit verloren. Er machte daher seinen Verlust bekannt und bot, wie man zu tun pflegt, dem ehrlichen Finder eine Belohnung, und zwar von hundert Talern an.
Da kam bald ein guter und ehrlicher Mann dahergegangen.
"Dein Geld habe ich gefunden. Dies wird's wohl sein! So nimm dein Eigentum zurück!" So sprach er mit dem heitern Blick eines ehrlichen Mannes und eines guten Gewissens, und das war schön.
Der andere machte auch ein fröhliches Gesicht, aber nur, weil er sein verloren geschätztes Geld wieder hatte. Denn wie es um seine Ehrlichkeit aussah, das wird sich bald zeigen. Er zählte das Geld und dachte unterdessen geschwinde nach, wie er den treuen Finder um seine versprochene Belohnung bringen könnte.
"Guter Freund", sprach er hierauf, "es waren eigentlich 800 Taler in dem Tuch eingenäht. Ich finde aber nur noch 700 Taler. Ihr werdet also wohl eine Naht aufgetrennt und Eure 100 Taler Belohnung schon herausgenommen haben. Da habt Ihr wohl daran getan. Ich danke Euch."
Das war nicht schön. Aber wir sind noch nicht am Ende. Ehrlich währt am längsten, und Unrecht schlägt seinen eigenen Herrn. Der ehrliche Finder, dem es weniger um die 100 Taler als um seine unbescholtene Rechtschaffenheit ging, versicherte, daß er das Päcklein so herbeigebracht, wie er's gefunden habe.
Am Ende kamen sie vor den Richter. Beide bestanden auch hier noch auf ihrer Behauptung - der eine, daß 800 Taler seien eingenäht gewesen, der andere, daß er von dem Gefundenen nichts genommen und das Päcklein nicht versehrt habe.
Da war guter Rat teuer. Aber der kluge Richter, der die Ehrlichkeit des einen und die schlechte Gesinnung des andern zum voraus zu kennen schien, griff die Sache so an: Er ließ sich von beiden über das, was sie aussagten, eine feste und feierliche Versicherung geben und tat hierauf folgenden Ausspruch:
"Demnach, und wenn der eine von euch 800 Taler verloren, der andere aber nur ein Päcklein mit 700 Talern gefunden hat, so kann auch das Geld des letztern nicht das nämliche sein, auf welches der erstere ein Recht hat. Du, ehrlicher Freund, nimmst also das Geld, welches du gefunden hast, wieder zurück und behältst es in guter Verwahrung, bis der kommt, welcher nur 700 Taler verloren hat. Und dir da weiß ich keinen andern Rat, als du geduldest dich, bis derjenige sich meldet, der deine 800 Taler findet."
So sprach der Richter, und dabei blieb es.
Aus Johann Peter Hebels "Kalendergeschichten".
Der aus Basel stammende Dichter lebte von 1760-1826
Drei Wünsche (Johann Peter Hebel)
Drei Wünsche
Johann Peter Hebel
Ein junges Ehepaar lebte recht vergnügt und glücklich beisammen und hatte den einzigen Fehler, der in jeder menschlichen Brust daheim ist: wenn man's gut hat, hätt man's gerne besser. Aus diesem Fehler entstehen so viele törichte Wünsche, woran es unserm Hans und seiner Liese auch nicht fehlte. Bald wünschten sie des Schulzen Acker, bald des Löwenwirts Geld, bald des Meyers Haus und Hof und Vieh, bald einmal hunderttausend Millionen bayerische Taler kurzweg.
Eines Abends aber, als sie friedlich am Ofen sassen und Nüsse aufklopften, kam durch die Kammertür ein weisses Weiblein herein, nicht mehr als eine Elle lang, aber wunderschön von Gestalt und Angesicht, und die ganze Stube war voll Rosenduft. Das Licht löschte aus, aber ein Schimmer wie Morgenrot, wenn die Sonne nicht mehr fern ist, strahlte von dem Weiblein aus und überzog alle Wände.
Über so etwas kann man nun doch ein wenig erschrecken, so schön es aussehen mag. Aber unser gutes Ehepaar erholte sich doch bald wieder, als das Fräulein mit wundersüsser, silberreiner Stimme sprach:
"Ich bin eure Freundin, die Bergfee, die im kristallenen Schloss mitten in den Bergen wohnt, mit unsichtbarer Hand Gold in den Rheinsand streut und über siebenhundert dienstbare Geister gebietet. Drei Wünsche dürft ihr tun; drei Wünsche sollen erfüllt werden."
Hans drückte den Ellenbogen an den Arm seiner Frau, als ob er sagen wollte: Das lautet nicht übel. Die Frau aber war schon im Begriff, den Mund zu öffnen und etwas von ein paar Dutzend goldgestickten Kappen, seidenen Halstüchern und dergleichen zur Sprache zu bringen, als die Bergfee sie mit aufgehobenem Zeigefinger warnte:
"Acht Tage lang", sagte sie, "habt ihr Zeit. Bedenkt euch wohl und übereilt euch nicht."
Das ist kein Fehler, dachte der Mann und legte seiner Frau die Hand auf den Mund. Das Bergfräulein aber verschwand. Die Lampe brannte wie vorher, und statt des Rosendufts zog wieder wie eine Wolke am Himmel der Öldampf durch die Stube.
So glücklich nun unsere guten Leute in der Hoffnung schon zum voraus waren und keinen Stern mehr am Himmel sahen, sondern lauter Geigen, so waren sie jetzt doch recht übel dran, weil sie vor lauter Wunsch nicht wussten, was sie wünschen wollten, und nicht einmal das Herz hatten, recht daran zu denken oder davon zu sprechen, aus Furcht, es möchte für gewünscht passieren, ehe sie es genug überlegt hätten.
"Nun", sagte die Frau, "wir haben ja noch Zeit bis am Freitag."
Des andern Abends, während die Erdäpfel in der Pfanne brutzelten, standen beide, Mann und Frau, vergnügt an dem Feuer beisammen, sahen zu, wie die kleinen Feuerfünklein an der russigen Pfanne hin und her züngelten, bald angingen, bald auslöschten, und waren, ohne ein Wort zu reden, vertieft in ihrem künftigen Glück.
Als die Frau aber die gebratenen Erdäpfel aus der Pfanne auf das Plättlein anrichtete und ihr der Geruch lieblich in die Nase stieg, sprach sie in aller Unschuld und ohne an etwas anderes zu denken:
"Wenn wir jetzt nur ein gebratenes Würstlein dazu hätten!“
O weh, da war der erste Wunsch getan. Schnell wie ein Blitz kommt und vergeht, kam es wieder wie Morgenrot und Rosenduft untereinander durch das Kamin herab, und auf den Erdäpfeln lag die schönste Bratwurst.
Wer sollte sich über einen solchen Wunsch und seine Erfüllung nicht ärgern? Welcher Mann über solche Unvorsichtigkeit seiner Frau nicht unwillig werden?
"Wenn dir doch nur die Wurst an der Nase angewachsen wäre", sprach er verärgert.
Wie gewünscht, so geschehen. Kaum war das letzte Wort gesprochen, so sass die Wurst auf der Nase des guten Weibes, wie angewachsen im Mutterleib und hing zu beiden Seiten hinab wie ein Husarenschnauzbart.
Nun war die Not der armen Eheleute erst recht gross. Zwei Wünsche waren getan und vorüber, und noch waren sie um keinen Heller und um kein Weizenkorn, sondern nur um eine vermaledeite Bratwurst reicher.
Noch war ein Wunsch zwar übrig. Aber was half nun aller Reichtum und alles Glück zu einer solchen Nasenzierat der Hausfrau? Sie mussten die Bergfee wohl oder übel bitten, Frau Liese von der Wurst zu befreien. Wie gebeten, so geschehen - auch der dritte Wunsch war vorüber, und die armen Eheleute sahen einander an, waren der nämliche Hans und die nämliche Liese, nachher wie vorher, und die schöne Bergfee kam niemals wieder.
*Merke: Wenn die Bergfee einmal zu dir kommen sollte, so sei nicht geizig, sondern wünsche
1) Verstand, dass du wissen mögest, was du
2) wünschen sollest, um glücklich zu werden. Und weil es leicht möglich wäre, dass du alsdann etwas wähltest, was ein törichter Mensch nicht hoch anschlägt, so bitte noch
3) um Zufriedenheit ohne Reue.
Aus Johann Peter Hebels "Schatzkästlein des Rheinischen Hausfreundes" (1811). Der aus Basel stammende Dichter lebte von 1760-1826
zum AnfangDe Joggeli söll ga Birli schüttle (Lisa Wenger)
De Joggeli söll ga Birli schüttle
Das Bilderbuch von Lisa Wenger, das wir alle kennen
De Joggeli söll ga Birli schüttle
Es schickt dr Herr dr Joggeli us
er söll go Birli schüttle.
Joggeli wott nid Birli schüttle,
d' Birli wei nid falle.
Do schickt de Meischter s Hündli us,
es söll de Joggeli bisse.
Hündli wott nid Joggeli bisse,
Joggeli wott nid Birli schüttle,
Birli wei nid falle.
Do schickt de Meischter s Chnebeli us,
es söll go s Hündli haue.
Chnebeli wott nid Hündli haue,
Hündli wott nid Joggeli bisse,
Joggeli wott nid Birli schüttle,
Birli wei nid falle.
Do schickt de Meischter s Fürli us,
es söll go s Chnebeli brönne.
Fürli wott nid Chnebeli brönne,
Chnebeli wott nid Hündli haue,
Hündli wott nid Joggeli bisse,
Joggeli wott nid Birli schüttle,
Birli wei nid falle.
Do schickt de Meischter s Wässerli us,
es söll go s Fürli lösche.
Wässerli wott nid Fürli lösche,
Fürli wott nid Chnebeli brönne,
Chnebeli wott nid Hündli haue,
Hündli wott nid Joggeli bisse,
Joggeli wott nid Birli schüttle,
Birli wei nid falle.
Do schickt de Meischter s Chälbli us,
es söll go s Wässerli sufe.
Chälbli wott nid Wässerli sufe,
Wässerli wott nid Fürli lösche,
Fürli wott nid Chnebeli brönne,
Chnebeli wott nid Hündli haue,
Hündli wott nid Joggeli bisse,
Joggeli wott nid Birli schüttle,
Birli wei nid falle.
Do schickt de Meischter de Metzger us,
er söll go s Chälbli stäche.
Metzger wott nid Chälbli stäche,
Chälbli wott nid Wässerli sufe,
Wässerli wott nid Fürli lösche,
üürli wott nid Chnebeli brönne,
Chnebeli wott nid Hündli haue,
Hündli wott nid Joggeli bisse,
Joggeli wott nid Birli schüttle,
Birli wei nid falle.
Do goht de Meischter sälber us
und foht a räsonniere.
Metzger wott jetz Chälbli stäche,
Chälbli wott jetz Wässerli sufe,
Wässerli wott jetz Fürli lösche,
Fürli wott jetz Chnebeli brönne,
Chnebeli wott jetz Hündli haue,
Hündli wott jetz Joggeli bisse,
Joggeli wott jetz Birli schüttle…
D Birli wei jetz falle!
Die Schweizer Schriftstellerin & Malerin Lisa Wenger lebte von 1858-1941. Sie war die Gattin eines Fabrikanten und begann mit dem Schreiben als Zeitvertreib. Neben Romanen und Erzählungen schrieb sie auch Kinderbücher. Ihr bekanntestes - "Joggeli söll ga Birli schüttle" - erschien erstmals 1908 und ist noch heute im Buchhandel erhältlich.
zum AnfangEin Wort gibt das andere (Johann Peter Hebel)
Ein Wort gibt das andere
Johann Peter Hebel
Ein reicher Herr im Schwabenland schickte seinen Sohn nach Paris, dass er sollte Französisch lernen und gute Sitten. Nach einem Jahr oder drüber kommt der Knecht aus des Vaters Haus auch nach Paris. Als der junge Herr den Knecht erblickt, ruft er voll Staunen und Freude aus:
"Ei, Hans, wo führt dich der Himmel her? Wie steht es zu Hause, und was gibt's Neues?"
"Nicht viel Neues, Herr Wilhelm, als dass vor zehn Tagen Euer schöner Rabe krepiert ist, den Euch vor einem Jahr der Jäger geschenkt hat."
"O das arme Tier", erwiderte der Herr Wilhelm. "Was hat ihm denn gefehlt?"
"Drum hat er zu viel Aas gefressen, als unsere schönen Pferde verreckten, eins nach dem andern. Ich hab's gleich gesagt."
"Wie! Meines Vaters vier schöne Mohrenschimmel sind gefallen?", fragt der Herr Wilhelm. "Wie ging das zu?"
"Drum sind sie zu sehr angestrengt worden mit Wasser führen, als uns Haus und Hof verbrannte, und hat doch nichts geholfen."
"Um Gottes willen!" ruft der Herr Wilhelm voll Schrecken aus. "Ist unser schönes Haus verbrannt? Wann das?"
"Drum hat man nicht aufs Feuer achtgegeben an Ihres Herrn Vaters seliger Leiche. Der ist bei Nacht begraben worden mit Fackeln. So ein Fünklein ist bald verzettelt!"
"Unglückliche Botschaft!", ruft voll Schmerz der Herr Wilhelm aus. "Mein Vater tot? Und wie geht's meiner Schwester?"
"Drum eben hat sich Ihr Herr Vater seliger zu Tode gegrämt, als Ihre Jungfer Schwester ein Kindlein gebar und hatte keinen Vater dazu. Es ist ein Büblein. Sonst aber", sagt der Knecht, "gibt's just nicht viel Neues."
Aus Johann Peter Hebels "Schatzkästlein des Rheinischen Hausfreundes" (1811). Der aus Basel stammende Dichter lebte von 1760-1826
zum AnfangKannitverstan (Johann Peter Hebel)
Kannitverstan
Johann Peter Hebel
Der Mensch hat wohl täglich Gelegenheit, in Emmendingen und Gundelfingen so gut als in Amsterdam Betrachtungen über den Unbestand aller irdischen Dinge anzustellen - und zufrieden zu werden mit seinem Schicksal, wenn auch nicht viel gebratene Tauben für ihn in der Luft herumfliegen. Aber auf dem seltsamsten Umweg kam ein deutscher Handwerksbursche in Amsterdam durch den Irrtum zur Wahrheit und zu ihrer Erkenntnis.
Denn als er in diese große und reiche Handelsstadt voll prächtiger Häuser,wogender Schiffe und geschäftiger Menschen gekommen war, fiel ihm sogleich ein großes und schönes Haus in die Augen, wie er auf seiner ganzen Wanderschaft von Tuttlingen bis nach Amsterdam noch keines erlebt hatte.
Lange betrachtete er mit Verwunderung dies kostbare Gebäude, die sechs Kamine auf dem Dach, die schönen Gesimse und die hohen Fenster, größer als an des Vaters Haus daheim die Tür. Endlich konnte er sich nicht entbrechen, einen Vorübergehenden anzureden.
"Guter Freund", redete er ihn an, "könnt Ihr mir nicht sagen, wie der Herr heißt, dem dieses wunderschöne Haus gehört mit den Fenstern voll Tulipanen, Sternenblumen und Levkojen?"
Der Mann aber, der vermutlich etwas Wichtigeres zu tun hatte und zum Unglück geradeso viel von der deutschen Sprache verstand als der Fragende von der holländischen, nämlich nichts, sagte kurz und schnauzig: "Kannitverstan", und schnurrte vorüber. Dies war nur ein holländisches Wort oder drei, wenn man's recht betrachtet, und heißt auf deutsch soviel als: Ich kann Euch nicht verstehn.
Das muß ein grundreicher Mann sein, der Herr Kannitverstan, dachte der gute Handwerksbursche und wanderte weiter. Bald darauf kam er zum Hafen. Da stand nun Schiff an Schiff und Mastbaum an Mastbaum, und er wußte anfänglich nicht, wie er es mit seinen zwei einzigen Augen durchfechten werde, alle diese Merkwürdigkeiten genug zu sehen und zu betrachten - bis endlich ein großes Schiff seine Aufmerksamkeit an sich zog, das vor kurzem aus Ostindien angelangt war und jetzt eben ausgeladen wurde.
Schon standen ganze Reihen von Kisten und Ballen auf- und nebeneinander am Lande. Noch immer wurden mehrere herausgewälzt und Fässer voll Zucker und Kaffee, voll Reis und Pfeffer und salveni Mausdreck darunter. Als er aber lange zugesehen hatte, fragte er endlich einen, der eben eine Kiste auf der Achsel heraustrug, wie der glückliche Mann heiße, dem das Meer alle diese Waren an das Land bringe.
"Kannitverstan", war die Antwort.
Da dacht er: Haha, schaut's da heraus? Kein Wunder, wem das Meer solche Reichtümer an das Land schwemmt, der hat gut solche Häuser in die Welt stellen und solcherlei Tulipanen vor die Fenster in vergoldeten Scherben.
Jetzt ging er wieder zurück und stellte eine recht traurige Betrachtung bei sich selbst an, was er für ein armer Teufel sei unter so viel reichen Leuten in der Welt. Aber als er eben dachte: Wenn ich's doch nur auch einmal so gut bekäme, wie dieser Herr Kannitverstan es hat, kam er um eine Ecke und erblickte einen großen Leichenzug. Vier schwarz vermummte Pferde zogen einen ebenfalls schwarz überzogenen Leichenwagen langsam und traurig, als ob sie wüßten, daß sie einen Toten in seine Ruhe führten.
Ein langer Zug von Freunden und Bekannten des Verstorbenen folgte nach, Paar und Paar, verhüllt in schwarze Mäntel und stumm. In der Ferne läutete ein einsames Glöcklein. Jetzt ergriff unsern Fremdling ein wehmütiges Gefühl, das an keinem guten Menschen vorübergeht, wenn er eine Leiche sieht, und blieb mit dem Hut in den Händen andächtig stehen, bis alles vorüber war.
Doch machte er sich an den letzten vom Zug, der eben in der Stille ausrechnete, was er an seiner Baumwolle gewinnen könnte, wenn der Zentner um 10 Gulden aufschlüge, ergriff ihn sachte am Mantel und bat ihn treuherzig um Excüse.
"Das muß wohl auch ein guter Freund von Euch gewesen sein", sagte er, "dem das Glöcklein läutet, daß Ihr so betrübt und nachdenklich mitgeht."
"Kannitverstan!" war die Antwort.
Da fielen unserm guten Tuttlinger ein paar große Tränen aus den Augen, und es ward ihm auf einmal schwer und wieder leicht ums Herz.
"Armer Kannitverstan", rief er aus, "was hast du nun von allem deinem Reichtum? Was ich einst von meiner Armut auch bekomme: ein Totenkleid und ein Leintuch und von allen deinen schönen Blumen vielleicht einen Rosmarin auf die kalte Brust oder eine Raute."
Mit diesem Gedanken begleitete er die Leiche, als wenn er dazu gehörte, bis ans Grab, sah den vermeinten Herrn Kannitverstan hinabsinken in seine Ruhestätte und ward von der holländischen Leichenpredigt, von der er kein Wort verstand, mehr gerührt als von mancher deutschen, auf die er nicht achtgab.
Endlich ging er leichten Herzens davon und verzehrte in einer Herberge, wo man Deutsch verstand, mit gutem Appetit ein Stück Limburger Käse. Und wenn es ihm wieder einmal schwer fallen wollte, daß so viele Leute in der Welt so reich seien und er so arm, so dachte er nur an den Herrn Kannitverstan in Amsterdam, an sein großes Haus, an sein reiches Schiff - und sein enges Grab.
Der aus Basel stammende Dichter Johann Peter Hebel lebte von 1760-1826
zum AnfangEine ernste Geschichte (Kurt Kusenberg)
Eine ernste Geschichte
Kurt Kusenberg
Sigrist, ein Schriftsteller, ernährte sich davon, daß er heitere Geschichten verfaßte. Während er sie niederschrieb, schnitt er absonderliche Grimassen und lachte leise vor sich hin; so lustig fand er die eigenen Werke. Doch auch seine Leser fanden sie lustig, und da die Welt sich gern erheitern läßt, hatte Sigrist ein leidliches Auskommen.
Eines Tages aber ward er des Scherzens überdrüssig und beschloß, eine ernste Geschichte zu schreiben. Das war nun nicht so leicht, wie er es sich gedacht hatte, denn immer wieder versuchte die spaßgewohnte Feder, hier oder dort einen possierlichen Einfall anzubringen, der wenig am Platze war. Erst als Sigrist einen neuen Federhalter erstand, ließ das Unwesen nach, und die Arbeit ging ihm gut von der Hand.
Fünf Wochen lang saß der Schriftsteller am Schreibtisch, schnitt keine Grimassen, lachte nicht und schrieb täglich zwei Seiten, bis das ernste Geschehen abgewickelt war. Dann kam die Stunde, in der Sigrist nach alter Gewohnheit die Geschichte, um ihre Wirkung zu erproben, seinen Freunden vorlas.
Er tat das gerne, weil er bei dieser Gelegenheit die ganze Geschichte gewissermaßen zum erstenmal überblicken konnte. Denn da er sie stückweise und unter großen Nöten zu Papier gebracht hatte, war ihm die Handlung nicht mehr recht geläufig.
Anfangs las er ein wenig stockend, aus Angst, die Verehrer seiner heiteren Kunst arg zu enttäuschen; allmählich jedoch nahm ihn die Muse bei der Hand und verlieh seiner Stimme Gewalt. Das herzhafte Lachen freilich, welches sonst den Vortrag zu unterbrechen pflegte, blieb gänzlich aus; statt dessen herrschte eine Stille, die jede Deutung zuließ - die beste wie die schlimmste.
Sigrist gehörte nicht zu jenen unleidlichen Vorlesern, die ihre Zuhörer andauernd im Auge behalten. Als er aber zufällig einen Blick in die Runde warf, gewahrte er mit Unwillen, daß zwei seiner Freunde in Schlaf gesunken waren. Das traf ihn hart, doch ließ er sich nichts anmerken, sondern las weiter.
Lag es an den beiden Schläfern, die jetzt hörbar schnarchten, an der ungewohnten Anstrengung, eine ernste Geschichte vorzutragen, oder gar an der Geschichte selbst? Jedenfalls geschah es, daß auch Sigrist von Müdigkeit ergriffen ward, daß seine Stimme sich immer mühsamer hinschleppte und schließlich, mitten in einem besonders langen und kunstvollen Satz, zur Ruhe ging.
Die Lider wurden ihm schwer, das Manuskript entglitt den schlaffen Händen und sank zu Boden. Seines Amtes als Hausherr und Schriftsteller eingedenk, riß Sigrist ein letztes Mal die Augen auf und sah sich von lauter Schläfern umgeben; dann schlummerte auch er.
Man wird es uns nicht recht glauben, wenn wir berichten, daß die ganze Gesellschaft bis zum nächsten Morgen durchschlief, und doch war es so und nicht anders. Als die Freunde erwachten, als sie sich räkelten und streckten, schien die Sonne ins Zimmer; draußen hatte die Arbeit längst begonnen.
Gescheit, wie feingeistige Leute nun einmal sind, kamen die soeben Erwachten auch gleich dahinter, was es mit der Geschichte auf sich hatte: Es war Sigrist gelungen, ein Werk zu schaffen, welches jeden Leser oder Hörer mit unwiderstehlicher Gewalt in tiefen Schlummer versenkte. Welch ein Geschenk an die Menschheit!
Die Sache sprach sich herum, Sigrists Erzählung wurde gedruckt und fand große Verbreitung. Auf jedem Nachttisch, unter jedem Sofakissen lag das schlafspendende Werkchen, Gesunde und Kranke lasen sich an ihm in den Schlaf, und wer einem Anderen den Liebesdienst erwies, tat gut daran, sich zuvor bequem und weich zu setzen, denn gegen die Macht der einlullenden Worte war niemand gefeit.
Es versteht sich, daß Sigrist mit der Zeit nicht nur zum vermögenden Mann, sondern auch zum hochgepriesenen Wohltäter wurde.
Eines freilich war seltsam und verursachte manches Kopfzerbrechen: niemand wußte, wie die Geschichte ausging, denn bis zu den letzten Seiten war kein Leser je vorgedrungen. Gesunde Menschen schliefen schon bei den ersten Seiten ein, Nervöse gelangten ein wenig weiter, und in Fällen hartnäckiger Schlaflosigkeit soll sogar die Hälfte des Werkes, jene berühmte Seite 35, von der nur Auserwählte wußten, erreicht worden sein.
Daß einige Schlauköpfe einfach den Schlußteil der Erzählung anlasen, half ihnen wenig; sobald sie erwachten, hatten sie alles vergessen. Es ergab sich, daß über den Ausgang des berühmten Schlafwerkes die widersprechendsten Gerüchte im Schwange waren und Sigrist von allen Seiten her angegangen wurde, sein besseres Wissen preiszugeben.
Er tat es jedoch nicht, sondern hüllte sich in ein geheimnisvolles Schweigen, das ihm nicht übel anstand. Er hätte auch kaum etwas zu sagen vermocht, denn er wußte selbst nicht mehr darüber, als daß die Geschichte mit einem tiefen Schlaf endete.
Der deutsche Autor Kurt Kusenberg (1904-1983) wurde vor allem bekannt als Verfasser von Kurzgeschichten. "Eine ernste Geschichte" erschien erstmals 1956.
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