Bücher, die bleiben
Es gibt so viele gute Bücher...
...und ich würde sie gerne alle lesen, aber ich bin nicht auf die Welt gekommen, nur um zu lesen - obwohl es in manchen Momenten verlockend wäre, sich in ein wärmendes Buch zu verkriechen und die Forderungen des Lebens zu überhören. Bücher lesen kann ich eigentlich nur in den Ferien. Und unterwegs im Zug. Sodass ich stets hoffe, möglichst oft unterwegs sein zu müssen.
Meinen Zeitungskonsum habe ich schon vor Jahren radikal reduziert, weil ein Buch viel mehr in die Tiefe geht. Hier eine kleine Auswahl von Werken, die mich besonders berührt, beeindruckt oder gefesselt haben. Am meisten interessieren mich Autobiographien, Liebesgeschichten, Märchen, Romane über vergangene Zeten, alte Reiseberichte und - dies nicht zuletzt - Bücher von Menschen, die mehr sehen als andere.
Hier finden Sie eine kleine, zufällige Auswahl von Büchern aus meinem Büchergestell - mit Auszügen aus dem Inhalt.
Hans Christian Andersen: Märchen
Böse kleine Spiegelscherben
Der Anfang des Märchens „Die Schneekönigin“ von Hans Christian Andersen
Es war einmal ein böser Zauberer, einer der allerärgsten – es war der Teufel! Eines Tages war er recht bei Laune, denn er hatte einen Spiegel gemacht, der die Eigenschaft besass, dass alles Gute und Schöne, das sich darin spiegelte, in fast zu nichts schwand; aber das, was zu nichts taugte und schlecht war, trat hervor und wurde noch ärger.
Die herrlichsten Landschaften sahen wie gekochter Spinat darin aus, und die besten Menschen wurden darin so widerlich, dass sie nicht zu erkennen waren. Fuhr ein guter, frommer Gedanke durch einen Menschen, dann zeigte sich ein Grinsen im Spiegel, so dass der Zauberteufel über seine Erfindung lachen musste.
Alle, die seine Zauberschule besuchten, erzählten ringsumher, dass ein Wunder geschehen sei: Nun erst könne man sehen, meinten sie, wie die Welt und die Menschen wirklich seien. Sie liefen mit dem Spiegel umher, und zuletzt gab es kein Land und auch keinen Menschen, der nicht verdreht darin gewesen wäre.
Die Teufelsschüler wollten nun auch zum Himmel auffliegen, um sich über die Engel und den lieben Gott lustig zu machen. Je höher sie mit dem Spiegel flogen, um so mehr grinste und zitterte er, sie konnten ihn kaum noch halten. Immer höher und höher stiegen sie, Gott und den Engeln näher.
Da erzitterte der Spiegel so fürchterlich in seinem Grinsen, dass er ihren Händen entwich und zur Erde stürzte, wo er in hundert Millionen Stücke zersprang.
Doch damit verursachte er grösseres Unglück als vorher; denn einige dieser Splitter waren nur so gross wie ein Sandkorn, und sie flogen umher in der weiten Welt, und wo die Leute sie in ihr Auge bekamen, da blieben sie sitzen, und da sahen die Menschen alles verkehrt oder hatten nur Sinn für das Verkehrte bei einer Sache. Denn jede kleine Spiegelscherbe hatte dieselben Kräfte behalten, die der ganze Spiegel besass.
Einige Menschen bekamen sogar eine Spiegelscherbe ins Herz. Da wurde das Herz einem Klumpen Eise gleich. Der Böse aber lachte, dass ihm beinahe der Bauch platzte; und es kitzelte ihn angenehm.“
Malina Oufkir: Die Gefangene
Die Oufkirs fertigmachen. Befehl des Königs.
Auszüge aus dem Buch Die Gefangene ("La Prisonnière") von Malika Oufkir
Malika Oufkir war die 18-jährige Tochter eines marokkanischen Generals, der 1972 einen Putschversuch unternahm. Der damalige König Marokkos, Hassan II., liess den General erschiessen und seine Familie verhaften. 15 Jahre lang wurden die Mutter und die sechs Kinder in einem abgeschiedenen Wüstengefängnis in Isolationshaft gehalten - ohne Kontakt zur Aussenwelt und ohne Aussicht, ihren Kerker je verlassen zu können. 1987 gelang ihnen das Unglaubliche: Sie konnten entkommen. Doch als Geächtete des Regimes wollte sie niemand aufnehmen. Wie sie es dennoch schafften, nicht aufzugeben - dies alles schildert Malika Oufkir in ihrem Buch "Die Gefangene".
Gefangen
Wohin gehen wir? Wir fahren durch die Wüste. Irgendwann, als es Nacht wird, halten wir an. Der Anblick, der sich uns darbietet, ist von einer wilden Schönheit. Es ist fast Vollmond, und das Mondlicht erhellt das ausgedörrte Hochland und die alten Berge des Hohen Atlas, deren Gipfel sich im Dunkeln abzeichnen.
Ich liebe die Wüste, ich bin oft durch sie hindurchgefahren, damals, als der Cousin des Königs mir und Lalla Mina, der Prinzessin, das Land gezeigt hat. Diese Zeit erscheint mir so weit entfernt, dass ich mich frage, ob sie je existiert hat.
Wir müssen aussteigen und uns auf freiem Gelände in einer Reihe aufstellen. Die Polizisten postieren sich uns gegenüber und bedrohen uns mit ihren Kalaschnikows.
Mama gelingt es, sich neben mich zu schieben. Sie flüstert mir leise ins Ohr:
"Kika, ich glaube, das ist das Ende."
Aber es ist erst der Anfang.
Die folgenden Ereignisse geben mir recht. Wir steigen wieder in den Wagen und fahren weitere Stunden. Die Reise ist sehr beschwerlich, vor allem für die drei Kleinen: Sie sind neun und zehn Jahre alt, und Abdellatif ist zweieinhalb. Wir haben Durst, Hunger und Angst. Niemand ist da, um die Furcht zu dämpfen, die uns überwältigt.
Am Ende unserer Reise bringt man uns in ein winziges Dorf, von dem wir nur wenig sehen können, weil man sofort zu einer Kaserne fährt. Über den Polizeifunk bekomme ich mit, dass wir in Assa sind, tief in der Wüste, nahe der algerischen Grenze.
Während der Protektoratszeit war diese Kaserne ein Ort der Verbannung. Die Franzosen schickten ihre Dissidenten dorthin, ihrer politischen Oppositionellen. Das Gebäude ist baufällig und verfallen, an manchen Stellen bröckelt bereits das Mauerwerk.
Man führt uns in ein Lehmhaus im Inneren des Kasernengeländes. Ein altes, völlig verschrumpeltes Männchen empfängt uns. Es ist Bouazza, der Kommandant des Lagers. Er trägt ein künstliches Gebiss, das er schlecht unter Kontrolle hat. Man hat stets den Eindruck, er spucke es aus oder verschlucke es.. Trotz der Angst, die mich drückt, kann ich mir ein heimliches Lächeln nicht verkneifen.
Bouazza brüllt uns an, dass wir von nun an ihm zu gehorchen hätten. Wir haben kein Interesse, aufzumucken, denn er erhält seine Befehle direkt vom König. Ich senke den Kopf. Bouazza tobt, aber er ist nur die Stimme seines Herrn. Eines Herrn, der meine Erziehung unvermeidbar geprägt hat. Als treue Untertanin kann ich die Dinge nur hinnehmen.
Bouazza ist überfordert. Er hat vierzig Jahre lang im Militärgefängnis von Kenitra kommandiert und unzählige politische Gefangene in seiner Obhut gehabt. Aber nie hat er eine Mutter und ihre sechs Kinder einsperren müssen.
Von unserer Geschichte hat er nur eines behalten, und er schreit es jetzt gross heraus:
"Die Oufkirs fertigmachen. Befehl des Königs."
Lebendig begraben
Die Tage waren endlos. Unser Hauptfeind war die Zeit. Man konnte sie sehen, fühlen, greifen, sie war furchtbar und bedrohlich. Das Schwierigste war, sie in den Griff zu bekommen. Am Tage reichte eines sanftere Brise, die durch das Fenster drang, um uns daran zu erinnern, dass sie uns verhöhnte und dass wir eingemauert waren.
Das sommerliche Dämmerlicht erinnerte mich an die Süsse früherer Zeiten, das Ende eines Strandtages, die Stunde vor dem Essen, wenn man noch einen Aperitiv zu sich nahm, das Lachen der Freunde, den Geruch des Meeres, den Geschmack von Salz auf der gebräunten Haut. Ich liess das wenige, das ich erlebt hatte, immer wieder an mir vorüberziehen.
Wir machten nichts Grossartiges mehr. Verfolgten den Weg einer Schabe von einem Loch zum nächsten. Dösten wieder. Wachten auf. Der Himmel wechselte die Farbe, und der Tag ging zu Ende. Ich verzehrte mich. Mir wurde klar, dass ich von innen her starb. Ich hatte häufig das Gefühl, in einem schwarzen Loche zu leben, umschlossen von Dunkelheit. So, als sei ich ein Ball, der unablässig in einen Brunnen fällt und dabei jedesmal gegen eine Mauer prallt.
Nach und nach begrub uns die Stille unter sich. Nur die Schritte der Wachen, ihr Pfeifen, das Klappern ihrer Schlüssel, das Gezwitscher der Vögel draussen, das Schreien eines Esels gegen vier Uhr morgens oder das Rauschen der Palmen im Wind störten die Stille noch. Den restlichen Tag über hörte man nichts.
Wir vergassen, wie sich der Lärm in der Stadt anhörte, die Unterhaltungen in den Cafés, das Klingeln des Telefons, das Autogehupe, all die vertrauten Geräusche, die das tägliche Leben so mit sich brachte und die uns so sehr fehlten.
Mimi war diejenige von uns, die ein untrügliches Zeitgefühl hatte. Sie verliess sich dabei auf die Sonnenstrahlen, die durch unsere winzigen Fenster hindurchdrangen. Man konnte Mimi zu jeder beliebigen Tageszeit fragen, wieviel Uhr es sei. Sie hob den Kopf unter ihrer Decke empor und sagte:
"Zehn nach drei. Viertel nach vier."
Sie täuschte sich nie.
Die Flucht
Ich fing gegen Mittag an zu graben. Um achtzehn Uhr hatte ich den Tunnelausgang fertig. Bald würde es dunkel werden. Ein Meter Erde trennte uns noch von der Freiheit.
Zuerst musste ich die Erde beiseite schaffen. Ich füllte den Ölkanister, zog an der Schnur, die Mädchen zogen ihn zu sich hoch, schütteten den Inhalt auf den Boden und schickten mir den Kanister zurück.
Ich wurde wütend. Der Löffel, um zu graben, reichte mir nicht mehr. Wenn ich die Erde dieses letzten Meters mit meinen Zähnen hätte herausbeissen können, hätte ich es getan. Ich grub, höhlte aus, dachte nicht mehr, existierte nicht mehr, ich wurde eine Maschine. Graben, Erde wegschaffen, graben, Erde wegschaffen...
Irgendwann stiess ich auf verwurzelten Efeu. Ich zog mit aller Kraft an ihm. Mehrere Stunden kämpfte ich gegen die Wurzeln und mühte mich ab, sie auszureissen. Diese Aufgabe war eigentlich unmöglich, aber ich steckte all meine Kraft und noch mehr in sie hinein.
Ich musste es einfach schaffen.
Und plötzlich - plötzlich war ein blauer Fleck in meinem Gesichtsfeld. Es war ein Stück abendlicher Frühlingshimmel, über den eine laue Brise hinwegstrich, die sanft meine Wange streichelte.
Ich blieb einen Moment lang unbewegt und an den Efeu geklammert, um mit einem Auge nach draussen zu schauen. Ich war aufgeregt und unendlich glücklich. Mein Gott, welches Wunder, das Leben war da, ganz nah.
Ich fuhr, so gut ich konnte, damit fort, allen Efeu herauszureissen. Und dann schob ich weinend meinen Kopf durch die Öffnung. Es war zu schön.
Gleichzeitig hatte ich Angst vor dem, was ich sah. Diese zum Greifen nahe Freiheit - sie schreckte mich.
Malina Oufkir "Die Gefangene"
Marion von Schröder Verlag 1999
Waldemar Bonsels: Die Biene Maja
Waldemar Bonsels
Die Biene Maja und ihre Abenteuer
Das berühmte Buch des deutschen Dichters Waldemar Bonsels (1880-1952) ist nicht nur ein Kinderbuch. 1912 erschienen und in 40 Sprachen übersetzt, erzählt es die Geschichte der Biene Maja, die nicht wie die anderen Bienen als Honigträgerin enden will, sondern die Freiheit sucht. Sie lernt dabei manches andere Tierlein kennen - aber am meisten interessiert sie der Mensch.
(I)
"So hast du keinen Wunsch?" fragte der Elf.
Majas Herz klopfte stürmisch. Oh, sie hatte seit langem einen heissen Wunsch, aber sie wagte es nicht, ihn vorzubringen
"Nun?" fragte der Elf. Er schien es zu ahnen - man konnte ihm nichts verschweigen.
"Ich möchte die Menschen kennenlernen, wie sie am schönsten sind", sagte die kleine Biene heiss und rasch und fürchtete, sie würde zur Antwort bekommen, dass man einen so grossen Wunsch nicht erfüllen könne.
Aber der Elf erhob sich ernst und ruhig, und seine Augen bekamen einen Glanz von Zuversicht.
"Komm, wir fliegen zusammen. Dein Wunsch soll in Erfüllung gehen."
(II)
Der Elf legte das winzige Fingerchen auf seine Lippen, bog einen blühenden Jasminzweig zur Seite und schob dann Maja ein wenig vor.
"Sieh nun hinab", sagte er leise, "dort findest du, was du gesucht hast."
Da sah die kleine Biene im Mondschatten auf einer Bank zwei Menschen sitzen. Es waren ein Mädchen und ein Jüngling. Sie hatte ihren Kopf an seine Schulter gelehnt, und der Arm des Jünglings hielt sie umschlungen, als ob er sie schützen wollte. Sie sassen ganz still da und schauten mit grossen Augen in die Nacht.
Maja sah still und voll Entzücken in das Gesicht des Mädchens. Von ihren roten Lippen, die ein klein wenig geöffnet waren, ging ein Hauch von Wehmut und Seligkeit aus, als ob sie dem Mann an ihrer Seite alles, was ihr eigen war, hingeben wollte.
Und nun wandte sie sich ihm zu und sagte etwas, das ein Lächeln in sein Gesicht zauberte, wie Maja nie geglaubt hatte, dass ein Wesen der Erde lächeln könnte. In seinen Augen strahlten ein Glück und eine Kraft, als wären Leid und Ungemach für immer aus der Welt verbannt.
Es verlangte Maja nicht zu wissen, was er dem Mädchen antwortete. Ihr Herz zitterte, als sei die Seligkeit dieser Menschen auch ihr Eigentum.
"Nun habe ich das Herrlichste gesehen", flüsterte sie bebend, "was meine Augen jemals schauen werden. Ich weiss nun, dass die Menschen am schönsten sind, wenn sie einander liebhaben."
Donna W. Cross: Die Päpstin
Donna W. Cross
Päpstin Johanna
„Der donnernde Jubel der Menschenmassen begrüsste Johanna, als sie auf den Stufen der Peterskirche erschien. Tausende von Gläubigen hatten seit Stunden in der glühenden Sonne ausgeharrt, um ihren neu gekrönten Papst zu begrüssen. Es war der Wille dieser Menschengewesen, dass Johanna die Tiara tragen sollte, und dieser Wunsch äusserte sich nun in einem gewaltigen Chor überschwenglicher und freudiger Jubelrufe:
Papst Johannes! Es lebe unser erhabener Papst Johannes!’
Johanna begrüsste die Menschen lächelnd und mit erhobenen Armen. Sie spürte, wie ein Glücksgefühl in ihr aufstieg. Gott hatte tatsächlich erlaubt, dass dies alles geschah; also konnte es nicht gegen seinen Willen verstossen. Alle Zweifel und Ängste Johannas verflogen und wichen der Gewissheit:
Dies ist meine Bestimmung, und dies sind die mir von Gott anvertrauten Menschen.
Sie wurde geheiligt durch die Liebe, die sie für diese Menschen empfand. Und vielleicht würde der Allmächtige ihr am Ende vergeben."
Aus dem historischen Roman "Die Päpstin" (1996) der amerikanischen Autorin Donna W. Cross (*1947)
Historische Dokumente - die dem Roman zugrunde liegen - belegen, dass eine als Mann verkleidete Frau 853 n.Chr. zum Papst gewählt wurde. Sie hatte das heilige Amt während zwei Jahren inne, bis sie bei der Geburt ihres Kindes starb. Sie hiess Johanna und amtierte als Papst Johannes Angelicus.
Die Kirche bestreitet den Wahrheitsgehalt dieser Geschichte, und nach wie vor muss der Papst ein Mann sein. Wer weiss – eines fernen Tages vielleicht wird es eine Päpstin geben. Wenn es dann Päpste noch braucht. Ich träume von einer Zukunft, in der es keine Kirchen mehr gibt.
Nur noch Gläubige.
zum AnfangAnita Lasker-Wallfisch: Ihr sollt die Wahrheit erben
Der Moment der Befreiung
Eine Erinnerung an den letzten Tag des Konzentrationslagers Bergen-Belsen (I)
Aus dem Buch von Anita Lasker-Wallfisch "Ihr sollt die Wahrheit erben"
Kein geschichtliches Thema bewegt mich so sehr wie der Zweite Weltkrieg, und die noch immer so zahlreichen Berichte zeigen mir, dass unzählige andere Menschen ebensowenig loskommen von all dem, was damals geschah.
Die aus Breslau stammende Jüdin Anita Lasker-Wallfisch war noch nicht einmal 20, als sie nach Auschwitz kam, wo sie das unwahrscheinlich klingende Glück hatte, als Cellistin im weiblichen Häftlingsorchester spielen zu dürfen.
1945, als die Rote Armee näherrückte, wurde Auschwitz aufgelöst, und die Gefangenen wurden zu Fuss oder in Viehwaggons mit dem Zug Richtung Westen deportiert. Endstation war das KZ Bergen-Belsen, wo ein Grossteil jener, die den Transport überlebt hatten, an Hunger starb. Als der Frühling kam - denn der Frühling kommt im Krieg wie im Frieden -, waren auch Anita und ihre ältere Schwester Renate dem Tode nahe.
Es folgte der 15. April. Renate schreibt:
"Am Morgen hatte ich meine kranke Schwester der Obhut einer Freundin anvertraut, um wenigstens etwas Trinkwasser aufzutreiben. Seit Tagen gab es kein Brot mehr zu essen. Die Suppe, die manchmal verteilt wurde, war eine trübe Brühe, auf der einige Rübenschalen herumschwammen. Nur wer noch einigermassen bei Kräften war, konnte sich eine Schüssel davon ergattern. Man balgte sich bei der Essensverteilung um jeden Tropfen.
Ich fand einen rostigen Eimer und ging ans Lagertor. Keiner hielt mich an. Das deutsche Wachpersonal war verschwunden. Ich füllte meinen Eimer am einzigen noch funktionierenden Wasserhahn und wollte ins Lager zurückgehen, als sich eine Horde halb verdursteter Häftlinge auf mich stürzte, um mir den Behälter wegzureissen. Er kippte um, und das kostbare Wasser versickerte im Staub der Lagerstrasse. Mit leeren Händen kehrte ich in die Baracke zurück.
Ich half meiner Schwester, von ihrer Schlafpritsche herunterzusteigen, und führte sie ins Freie. Dort setzten wir uns auf die Erde und lehnten uns an die Barackenwand. Vor uns und hinter uns lagen Leichen. Ich erinnere mich genau: an die ungewöhnliche Hitze - und den süsslichen Gestank der Verwesung.
Einige Tage zuvor hatte die SS ein Kommando von Häftlingen, die noch aufrecht stehen konnten, zusammengetrommelt. Wir sollten die Leichen in grosse Gruben schleppen. Man hatte uns Bindfaden ausgehändigt, mit denen wir die Arme der Toten zusammenzubinden hatten, um sie dann quer durchs Lager zu schleifen. Dieses Unterfangen wurde bald aufgegeben. Wir waren zu schwach.
Und Anita fährt fort:
Inzwischen war es Mittag geworden. Seit Tagen schon hörten wir das leise Rumpeln schwerer Geschütze, doch wir hatten keine Ahnung, was draussen, jenseits des Lagers, vor sich ging. Wer schoss? Waren es die Deutschen, waren es die Allierten?
Jetzt wich das leise Rumoren einem unverkennbaren Geräusch - dem Rasseln von Panzerketten.
Im Lager wurde es totenstill.
Und in diese Stille hinein drang auf einmal eine englische Stimme: "This is the British Army. Please remain calm. We have come to liberate you. Don't worry. You are free."
Die ersten Tanks erreichten das Lager. Wir blickten stumm auf unsere Befreier. Zum Jubeln hatten wir keine Kraft. Jahrelang hatte man uns durch alle Extreme gezerrt: Elend, Entbehrungen, Angst, Verzweiflung, Hunger und Hass. Was wir erfahren hatten in dieser Zeit, lag ausserhalb dessen, was ein Mensch normalerweise ertragen kann.
Nun war dies alles zu Ende. Wir waren befreit. Jahrelang hatten wir gelebt für diesen Moment. Plötzlich gab es Raum um uns herum. Ein Gefühl von Erlösung, Dankbarkeit und Skepsis drang in unser Bewusstsein. Es war schwer zu fassen. Ich war neunzehn Jahre alt und fühlte mich wie neunzig."
Die tröstende, verwirrende Macht der Normalität
Erinnerungen an die ersten Wochen nach der Befreiung aus dem KZ (II)
Mit der Unterzeichnung der Kapitulationsurkunde am 7. Mai vor 60 Jahren war der Zweite Weltkrieg in Europa zu Ende. Drei Wochen vorher bereits hatten britische Truppen das Konzentrationslager Bergen-Belsen erreicht.
Das Bild, das sich ihnen bot, war ein Bild des Grauens: Unzählige Leichen - dazwischen halbverhungerte, typhuskranke, kraftlos dahinsiechende Ueberlebende. Wir alle kennen diese Bilder, und die meisten Berichte aus jener Zeit enden an dieser Stelle.
Nach der Räumung des Lagers und der Inbrandsetzung der Baracken wurden die Ueberlebenden - zumindest jene, deren Gesundheit es schon erlaubte - in Wohnhäusern von Bergen-Belsen und Notunterkünften beherbergt. Auch Anita und Renate Lasker, die kein Zuhause mehr hatten, mussten vorläufig bleiben. Bis zur Behandlung ihres Ausreiseantrags nach England wurden sie als Dolmetscherinnen eingesetzt.
Wenige Wochen nach ihrer Befreiung schrieb Anita ihrer älteren Schwester Marianne, die in England lebte, die folgenden Zeilen:
Belsen Camp, 25. Mai 1945
Meine geliebte Marianne,
ich sitze im Büro und habe gerade nichts Besonderes zu tun, also schreibe ich dir ein paar Worte. Wir wohnen neuerdings in einem kleinen Häuschen, das früher wohl einem Gärtner gehörte. Extra prima. Wir haben oben zwei Zimmer, Radio und sehr hübsche Möbel, essen tun wir ausserhalb. Gutes, viel zu gutes Essen! Renate muss bereits auf ihre Figur aufpassen. Mit einem Wort, wir freuen uns unseres Lebens. Dieses ist ganz wörtlich zu nehmen. Ich warte schon mit grosser Ungeduld auf eine Nachricht von dir und auf Fotos von der Familie...
Und zwei Wochen später, am 8. Juni, in einem weiteren Brief heisst es:
... Nur noch eine Bitte haben wir, so komisch das klingen mag. Es wird hier in den nächsten Tagen ein Schwimmbad eröffnet, und wir würden gerne jede einen Badeanzug haben und ganz gerne ein paar leichte Sandalen mit flachem Absatz. Wir haben beide Schuhgrösse 39. Aber bitte keine Umstände machen. Sonst brauchen wir momentan nichts...
Lesen Sie diese Briefauszüge jemandem vor - und fragen Sie ihn oder sie, unter welchen Umständen diese Sätze geschrieben wurden, von wem sie stammen. Niemand würde es herausfinden.
"Renate muss bereits auf ihre Figur aufpassen" - was für ein Satz in jenem Moment! Und doch ist es tröstend, zu sehen, wie schnell der Mensch in ein äusserlich normales Leben zurückfindet.
Innerlich war die Rückkehr in die Normalität nicht so leicht zu bewältigen. Davon handelt der dritte Teil der Erinnerungen.
„So sehr lieben können…“
(III)
Für Anita und Renate Lasker ist der Gedanke, als Jüdinnen in Deutschland weiterleben zu müssen, unvorstellbar. Doch ihr Einreiseantrag nach England – wo ihre Schwester Marianne lebt – ist immer noch nicht bewilligt.
Während sie darauf warten müssen, betätigen sie sich als Dolmetscherinnen für die britischen Militärbehörden. Und weiterhin schreiben sie viele Briefe. In einem der Briefe schreibt Anita an Marianne:
„Ich hasse das deutsche Volk, AUSNAHMSLOS, wenn ihr nur irgend begreifen könnt, was Hassen heisst.
Das geht so weit – in meiner Eigenschaft als Dolmetscherin passiert mir das öfter -, dass ich, wenn ich mit Deutschen zu sprechen habe, mich umdrehen muss, um ihnen nicht ins Gesicht zu schlagen.
Ich hasse jeden von ihnen – auch jene, die mir persönlich gar nichts getan haben.“
Doch dann fährt die 19-jährige fort:
„Ich wünsche mir nur, einmal im Leben so sehr lieben können, wie ich jetzt hassen kann.“
Wer so etwas sagt, kann nicht wirklich hassen.
Wer so etwas sagt, spürt, wieviel schwieriger, als zu hassen, die Fähigkeit ist - zu lieben.
"Kaum einer besteht die Probe"
Der geschärfte Blick einer Überlebenden
(IV)
Viele Wochen lang bemühen sich Anita und Renate Lasker im Frühsommer 1945 vergeblich um die Ausreise nach England, wo ihre Schwester Marianne wohnt.
Während dieser ganzen Zeit bleiben sie weiterhin - mit vielen anderen "displaced persons", deren Zukunft ebenfalls ungewiss ist - in Bergen-Belsen, unweit des ehemaligen KZ-Geländes. Betreut werden sie von Militärpersonal und freiwilligen Helfern aus England.
Nicht nur Anita, auch Renate, die Ältere, schreibt Briefe an Marianne.
In einem dieser Briefe freut sie sich aufrichtig über die Hilfe, die den Überlebenden von allen Seiten zuteil wird. Doch dann folgen Sätze, die mich erschaudern lassen:
"Wir sehen die Menschen um uns herum - obwohl sie alle schrecklich nett zu uns sind - manchmal durch eine mitleidlose Brille.
Denn wir haben im KZ vor allem eins gelernt: Menschenkenntnis. Wir haben erleben müssen, dass fast alle Menschen in der Stunde, wo sie sich bewähren müssten, wo sie zeigen müssten, dass sie Menschen sind, zu Tieren werden.
Jeden Einzelnen, den ich jetzt kennenlerne, sehe ich deshalb - vor meinem geistigen Auge - als KZ-Häftling. Und kaum einer besteht die Probe."
Würden wir sie bestehen?
Ein halbes Jahr nach ihrer Befreiung aus dem KZ durften Anita und Renate Lasker Deutschland verlassen. Anita lebt heute in England, Renate in Frankreich. Renate produzierte Fernsehfilme und schreibt, während Anita, die Jüngere, eine bekannte Cellistin wurde. Sie ist dem Instrument, das sie im KZ spielte, treu geblieben.
Anita Lasker-Wallfisch "Ihr sollt die Wahrheit erben"
zum AnfangNikolaj Michailowitsch Karamsin: Briefe eines reisenden Russen (1789)
Im Lande der Unschuld
Von Nikolaj Michailowitsch Karamsin (1766-1826)
Briefe eines reisenden Russen auf seinem Weg durch die Schweiz - im Jahre 1789
Reiseberichte aus früherer Zeit habe ich immer schon gern gelesen. Wie ein junger Russe unser Land vor über 200 Jahren erlebte, ist zugleich unterhaltsam und aufschlussreich: So sind wir also - so sind wir schon damals gewesen! Äusserlich allerdings, wie das Beispiel Basel zeigt (Teil II), ist doch einiges anders geworden...
(I)
"Nehmen Sie sich in acht, meine Herren", sagte ein Offizier in Strassburg zu uns, als wir im Begriff waren, die Postkutsche zu besteigen, "der Weg ist nicht ganz sicher. Es gibt viele Räuber im Elsass!"
Wir sahen einander an. "Wer keine Schätze mit sich führt, fürchtet sich nicht vor Räubern", meinte ein junger Genfer, der mit mir aus Frankfurt gereist war. "Und ich habe einen Hirschfänger und einen Hund!" erklärte ein neben mir sitzender junger Mensch in einer roten Weste.
"Was sollten wir uns fürchten?" stimmten wir alle ein, und siehe! - wir kamen glücklich in Basel an.
Mit dem jungen Mann in der roten Weste bin ich schon ziemlich vertraut. Er ist der Sohn des Hofapothekers Becker aus Kopenhagen, hat in Berlin Medizin studiert und sich vorzüglich mit der Chemie beschäftigt. Darauf hat er fast ganz Deutschland, in Begleitung seines Hundes und einen Hirschfänger an der Seite, zu Fuss durchwandert, indem er seinen Koffer immer mit der Post vorausschickte.
Jetzt will er, wie ich, die Merkwürdigkeiten der Schweiz besehen und sich dann nach Frankreich und England begeben. Seinen Hund liebt er mit der zärtlichsten Freundschaft. Unterwegs sah er unentwegt nach, ob der Hund der Postkutsche folge. Als er einige Meilen vor Basel bemerkte, dass der Hund müde war und zurückblieb, stieg er aus, um ganz langsam mit seinem Freund nachzukommen. Hier in Basel logieren wir zusammen in einem Gasthof.
Und so bin ich denn schon in der Schweiz? - Im Schoss der malerischen Natur, im Lande der Unschuld und der Zufriedenheit?
Es scheint, als hätte die hiesige Luft etwas Belebendes. Ich hole leichter und freier Atem, ich trete fester auf, mein Kopf erhebt sich mehr - und ich denke mit Stolz daran, dass ich ein Mensch bin."
Schweizerblut
(II)
"Basel ist die grösste Stadt in der Schweiz; aber ausser zwei ansehnlichen Häusern, die dem Bankier Sarasin gehören, habe ich hier weiter keine guten Gebäude gesehen. Die Strassen sind ausserordentlich schlecht gepflastert, und einige Nebengassen sind ganz mit Gras bewachsen.
Der Rhein teilt die Stadt in zwei Hälften, und obschon der Fluss hier noch nicht so breit wie etwa bei Mainz ist, gefällt er mir doch wegen seines rascheren Laufes und seiner grünen Farbe ungleich mehr als in Deutschland. Nur ist er ganz leer, kein Fahrzeug, nicht einmal ein Kahn schwimmt auf seinem Rücken.
Ich begreife nicht, warum die Basler den Vorteil der Schiffahrt nicht ausnutzen.
An allen Einwohnern Basels bemerkt man ein gewisses wichtiges Gehabe, das an finsteren Ernst grenzt. Überhaupt haben sie in der Miene, im Gang und in der Gebärde viel Charakteristisches.
In Privathäusern sowie in den Gasthöfen herrscht eine besondere Reinlichkeit, die alle Reisenden als eine eigentümliche Tugend der Schweizer preisen.
Zwei oder drei Werst vor der Stadt, wo jetzt das Jakobshospital steht, fand einst zwischen den Franzosen und den Schweizern eine blutige Schlacht statt, in der die Schweizer fast ganz aufgerieben wurden. Hierher, nach St. Jakob wallfahren die Basler alle Jahre im Mai, um die Heldentaten ihrer Vorfahren zu besingen.
Sie trinken dann eine Art roten Wein. Man nennt ihn Schweizerblut.“
Verliebt...
(III)
Stellt euch vor, dass mein neuer Bekannter Benedict, in dessen Gesellschaft ich die Schweiz durchreise, krank, totkrank - vor Liebe ist.
In unserem Basler Gasthof wohnt auch ein junges Frauenzimmer aus Yverdon. Heute speiste sie mit uns zu Abend an der Wirtstafel. Sie sass neben Benedict und fing einige Male an, mit ihm zu sprechen.
Das zärtliche Herz des Dänen fing Feuer an ihren brennenden Blicken. Er glühte über und über, vergass Essen und Trinken und war nur damit beschäftigt, seine Dame gehörig zu bedienen.
Gegen Ende der Tafel überreichte er ihr sein Taschenbuch mit der Bitte, etwas zur Erinnerung für ihn hineinzuschreiben. Sie nahm es, blickte ihn zärtlich an und schrieb folgendes auf französisch:
"Ein Herz wie das Ihrige hat keine Erinnerung nötig; indem es seinen Neigungen folgt, folgt es den Geboten der Tugend."
Sie gab es ihm lächelnd zurück.
"Madame", stammelte der entzückte Benedict, "Madame!"
Man stand vom Tisch auf; das Frauenzimmer machte dem Dänen eine Verbeugung und verliess am Arm ihres Bruders das Zimmer. Benedict stand da, sah ihr nach und sagte endlich zu mir, da ich zu ihm trat:
"Ich zweifle, dass ich morgen werde mitreisen können. Ich fühle mich krank - sehr krank!"
Glückliche Schweizer!
(IV)
Die Schöne aus Yverdon ist diesen Morgen abgereist, und der Däne Benedict fühlt sich wiederhergestellt. Wir haben einen Fuhrmann gemietet, der uns für zwei Louisdor in einem zweisitzigen Wagen, vor den zwei feiste Pferde gespannt sind, nach Zürich bringen wird - denn in der Schweiz gibt es keine Post.
"Nun, meine Herren", ruft schon der ansehnliche Schweizer Fuhrmann, "sitzen Sie auf. Alles ist fertig!"
Etwas später, unterwegs nach Rheinfelden
Wir fahren längs dem Rhein, der mit fürchterlichem Brausen zwischen den stillen Wiesen und Weingärten dahinstürzt. Hier spielen muntere Knaben und Mädchen; dort macht ein Landmann die Stäbe zurecht an denen die Weinranken sich emporwinden sollen, während er ein lustiges Liedchen pfeift. Er blickt auf die vorüberfahrenden Reisenden und wünscht ihnen einen guten Tag.
Ja, liebe Freunde, ich geniesse die Schweiz. Jedes Lüftchen, scheint es, regt in meinem Herzen das Gefühl der Freude. Was für Gegenden! Welche Ansichten! - Zwei Werst nach Basel sprang ich aus dem Wagen, warf mich auf das blühende Ufer des Flusses und küsste in meiner jugendlichen Begeisterung die Erde.
"Glückliche Schweizer!" rief ich aus, "täglich und stündlich müsst ihr dem Himmel für euer Glück danken, dass ihr in den Umarmungen dieser Natur, unter den wohltätigen Gesetzen eures brüderlichen Bundes, in Einfalt der Sitten lebt und niemandem dient als Gott!
Euer ganzes Leben gleicht einem angenehmen Traum, und selbst der Pfeil des Todes wird sich sanft in eure von keinen tyrannischen Leidenschaften beherrschte Brust senken. Wenn ich in diesem Augenblick sterben müsste - oh, ich würde mit Tränen der Liebe in den allumfassenden Schoss der Natur sinken."
Lasst ihn los!
(V)
In einem Dorf irgendwo zwischen Brugg und Zürich bemerkten wir auf der Durchreise einen grossen Zusammenlauf. Wir liessen halten, stiegen aus und drängten uns in den Haufen. Wir sahen einen jungen Menschen, den man eben binden wollte und der mit Tränen bat, man möge ihn loslassen.
"Was hat er verbrochen?" fragten wir.
"Er hat zwei Taler im Gewürzladen gestohlen", erwiderten uns mehrere Stimmen. "Bei uns ist Diebstahl etwas Unerhörtes. Dieser Herumtreiber ist aus Deutschland zu uns gekommen. Er muss bestraft werden."
"Aber er weint", sagte ich, "lasst ihn los, gutmütige Schweizer!"
"Nein, er muss bestraft werden, damit er in Zukunft nicht wieder stiehlt."
"So straft ihn wenigstens, wie ein Vater seine fehlenden Kinder straft", versetzte ich seufzend und ging zurück zum Wagen. Vielleicht nirgends ist das Verbrechen so selten wie in der Schweiz. Von Strassenraub und Mordtaten hört man niemals; nur Friede und Sicherheit herrschen in diesem glücklichen Land.
Schminke kennen sie gar nicht
(VI)
Unter sehr angenehmen Empfindungen näherte ich mich Zürich. Wir kamen des Morgens um zehn Uhr an und stiegen im "Raben" ab, wo wir ein grosses Zimmer bewohnen, aus dem wir eine herrliche Aussicht haben. Vor unseren Augen breitet sich der Zürchersee aus, und fast unter unseren Fenstern stürzt der rauschende und schnelle Strom der Limmat vorbei.
Über dem See, gerade vor uns, erheben sich steile Felswände, und zur Seite in weiter Ferne erblickt man die Gebirge mit ihren schneebedeckten Gipfeln - ein Schauspiel, das für mich ganz neu ist!
Vielleicht in keiner Stadt Europas findet man solch unverdorbene Sitten und soviel Rechtschaffenheit wie in Zürich. Hier wird noch streng auf die Gesetze der ehelichen Treue gehalten, und eine Frau, die es wagte, sie öffentlich zu verletzen, würde ein Gegenstand des allgemeinen Unwillens werden.
Die Mütter halten die Erziehung ihrer Kinder für ihren Hauptzeitvertreib; und da auch die reichsten Familien oft nicht mehr als eine Magd zur Bedienung halten, findet eine Frau in ihrem Hauswesen Beschäftigung genug und wird nicht durch den Müssiggang, der die Quelle so vieler Laster ist, verdorben.
Auch gehen die Frauenzimmer selten zu Besuch, und Bälle, Theater, Maskeraden, Klubs, prächtige Gastmähler sind gänzlich unbekannt. Ebenso selten kommen sie mit fremden Männern zusammen, und vor Ausländern schämen sie sich zu sprechen, weil sie glauben, dass der Zürcher Dialekt fremden Ohren zuwider ist.
Die weisen Gesetzgeber der Republik Zürich haben wohl gewusst, dass der Luxus das Grab der Freiheit und guten Sitten ist, und haben ihm deswegen den Eingang in ihre Republik versperrt. Die Männer dürfen weder Samt noch Seide tragen, und den Frauenzimmern sind Brillanten und Spitzen verboten. Alle Damen kleiden sich einfach und wissen nichts von französischen Moden.
Schminke kennen sie gar nicht.
Jedem Genuss folgt sein Schatten
(VII)
Nach einem längeren Aufenthalt in Zürich reist der junge Russe weiter nach Bern und von dort ins Berner Oberland, wo er die Schönheit der Berge entdeckt. Von Grindelwald aus bricht er morgens um 5 Uhr mit seinem Bergführer auf, überquert die Scheidegg und steigt ins Haslital ab. Unterwegs - in Rosenlaui - hält er Rast.
Es ist unbeschreiblich, wie wohl mir der Blick auf die grünen Fluren tat, nachdem ich so lange nichts als kahle Felsen und Schneemassen gesehen habe. Auf jeder Wiese ruhte ich einige Minuten aus und küsste jedes Gräschen in Gedanken. So gelangte ich endlich in ein kleines Gebirgsdorf, dessen Einwohner in der ganzen Einfalt des Hirtenstandes leben. Sie verstehen durchaus nichts weiter als die Viehzucht, und Milch ist ihre einzige Nahrungsquelle. Ihre riesigen Käse gehen grösstenteils nach Italien.
Da ich sehr durstig war, bat ich einen jungen Hirten um ein Glas Wasser. Augenblicklich lief er in die Hütte, vor der er gesessen hatte, und brachte mir eine Schale.
"Sie ist rein", sagte er in verdorbenem Deutsch, indem er sie zeigte. Dann lief er an den Bach und brachte mir die gefüllte Schale mit den Worten: "Trink, guter Mensch, trink unser Wasser."
Zwei junge muntere Hirtinnen, die mir beim Trinken zusahen, lachten unaufhörlich. Als ich ihnen sagte, dass mir ihr simples, sorgenfreies Leben gar sehr gefiele und dass ich Lust hätte, bei ihnen zu bleiben und die Kühe mit ihnen zu melken, antworteten sie mir mit lautem Gelächter.
Es ist wahr, unsere heutigen Wohnungen und Kleider sind bequemer, aber ist unser Herz darum ruhiger? Ach nein! Tausend Sorgen, von denen der Mensch im Stand der Natur nichts wusste, zerreissen jetzt unser Inneres. Und jedem Genuss folgt sein Schatten - die Unlust.
Gern würde ich mich von den meisten Bequemlichkeiten des Lebens lossagen, um in den Naturzustand der Menschheit zurückzukehren. Oh, meine Freunde, warum wurden wir nicht in den Zeiten geboren, da alle Menschen Hirten und Brüder waren?
Nirgends in der Welt gibt es ein zweites Meyringen
(Schluss)
Nach seinem Abstieg von der Scheidegg gelangt der junge Russe gegen Abend nach Meiringen - ein Dorf, zu dem auch ich eine besondere Beziehung habe: Es ist mein Heimatort.
Das Dorf Meyringen besteht aus kleinen hölzernen Häusern, die in weiten Abständen voneinander im Tal verstreut liegen. Und so herrlich und schön die Natur hier ist, so schön sind auch die Menschen, vorzüglich die Weiber, die ohne Ausnahme Schönheiten sind. Wird's euch nun wundern, wenn ich einige Tage hier bleibe? Vielleicht nirgends in der Welt gibt es ein zweites Meyringen.
Als ich ins Dorf kam, fand ich vor einem Haus eine Menge junger Leute, die miteinander spielten, sprangen und allerhand Mutwillen trieben. Man feierte eine Verlobung. Ich entdeckte leicht den Bräutigam und die Braut unter den übrigen. Das schönste Paar, das man sich denken kann! Unaufhörlich spielte die lieblichste Röte auf ihren Wangen, und ihre Augen schwammen in Tränen. Sie wollten lustig sein wie die übrigen, aber eine zärtliche Schwermut, die sich in jeder ihrer Bewegungen zeigte, unterschied sie von den anderen Hirten und Hirtinnen.
Ich trat zu dem Bräutigam, und indem ich ihm freundschaftlich auf die Schultern klopfte, sagte ich zu ihm:
"Du bist sehr glücklich, mein Freund!"
Die Braut sah mich an, und in ihren ausdrucksvollen Blicken bemerkte ich eine bescheidene Danksagung für mein Lob. Ich nahm Abschied von den Neuverlobten - und wenn die Alpenmädchen nicht so verschämt wären, hätte ich vielleicht Lust bekommen, sie um etwas zu bitten. Um was meint ihr wohl?
Um nichts weiter als einen unschuldigen Kuss.
Ende
zum AnfangAlex Garland: Der Strand (The Beach)
Alex Garland
Der Strand (The Beach)
Auch ich habe den Film mit Leonardo di Caprio gesehen - und danach bin ich zufällig auf das Buch gestossen. "Der Strand" ist der erste Roman eines jungen Engländers, 1996 erschienen, und es ist ein beeindruckendes und extremes Buch. Manchmal, beim Lesen dachte ich: So etwas kann man gar nicht erfinden. Das hat der Autor selbst erlebt.
Richard, ein junger Engländer, ist mit dem Rucksack in Thailand unterwegs - abseits der Routen des Massentourismus, auf der Suche nach dem einzigartigen Abenteuer. In einem Billighotel in Bangkok logiert im Zimmer nebenan ein verrückter Kerl, der total bekifft ist und lauthals von einem "Strand" faselt. Als er merkt, dass ihn Richard hört, stellt er ihn zur Rede:
"Du hast gehört, was ich von dem Strand geredet habe. Du hast gelauscht."
Richard verteidigt sich, er habe nichts gehört. Er ist müde, gerade erst angekommen, und es gelingt ihm, den Kerl wieder loszuwerden. Am nächsten Morgen findet er einen Brief vor der Tür. Der Brief enthält nichts als eine von Hand gezeichnete Karte...
(I)
Die Karte war wunderschön bunt gemalt. Am oberen Rand stand mit dickem roten Filzstift "Golf von Thailand". Die Umrisse der Inseln waren mit grünem Kugelschreiber gezeichnet, und kleine blaue Farbstiftwellen kräuselten sich auf dem Meer. Ein dünnerer Rotstift war für die Namen der Inseln verwendet worden.
Oben in der rechten Ecke war ein Kompass aufgemalt, sorgfältig in sechzehn Strahlen unterteilt, jede mit der entsprechenden Himmelsrichtung versehen.
Das alles sah so ordentlich aus, dass ich lächeln musste. Es erinnerte mich an Erdkunde-Hausaufgaben, in der Schule damals.
Dann fiel mir bei einer Gruppe kleinerer Inseln ein schwarzes Zeichen auf. Ein "X". Ich schaute genauer hin. In winzigen Lettern stand darunter das Wort Strand.
Ich hätte das nicht getan
(2)
Gemalt hat die Karte jener andere, etwas ältere Ausländer, dem Richard am Abend seiner Ankunft begegnet ist. Als Richard ihn wieder aufsuchen will, findet er nur noch dessen Leiche. Der Mann hat sich die Pulsadern aufgeschlitzt. Sein "Vermächtnis" war es, den jungen Engländer in das Geheimnis des Strandes einzuweihen.
Richard beschliesst mit einem französischen Pärchen zusammen, den Strand zu suchen, der - nach den Angaben auf der Karte - auf einer der zahlreichen Inseln vor Ko Samui liegt. Mithilfe eines thailändischen Fischerbootes erreichen die drei Rucksacktouristen zunächst eine Nachbarinsel. Dort lassen sie sich absetzen. Das Eiland, auf der sich der Strand befindet, wollen sie schwimmend erreichen.
Vorher noch macht Richard einen Spaziergang, setzt sich auf einer Lichtung ins Gras und raucht friedlich eine Zigarette. Er ahnt nicht, was ihm bevorsteht.
"Ich habe mich immer bemüht, mich daran zu erinnern, wie ich auf dieser Lichtung sass und meine Zigarette rauchte. Ich habe mich an diesen Augenblick gehalten, weil es der letzte war, auf den ich mit dem Finger deuten und sagen konnte: Das war ich, als ich normal war.
Ich kann nicht alles, was danach passierte, als übel bezeichnen. Es ist auch Gutes geschehen. Eine Menge Gutes. Und ganz profane Sachen: dass ich mir morgens das Gesicht wusch, dass ich schwimmen ging, dass ich etwas zu essen machte.
Aber im Rückblick sind all diese Dinge eingefärbt von dem, was um sie herum geschah. Manchmal habe ich das Gefühl, ich sei auf diese Lichtung gegangen und hätte mir die Zigarette angezündet, und dann sei jemand anders gekommen und habe sie zu Ende geraucht.
Diese andere Person hat Dinge getan, die ich nicht tun würde. Der Zigarettenstummel - dieser andere Typ hat ihn ins Gebüsch geschnippt. Ich hätte das nicht getan. Ich hasse es, wenn einer Müll in die Gegend wirft, vor allem in einem Naturschutzgebiet.
Es ist schwer zu erklären. Ich glaube nicht an Besessenheit oder an Übernatürliches. Ich weiss, dass ich es war, der den Zigarettenstummel wegschnippte."
Dann tat ich es. Ich sprang.
(3)
Schwimmend erreichen Richard und das französische Pärchen die thailändische Insel, auf deren Rückseite - gemäss der Karte - der geheimnisvolle Strand liegen soll. Sie überqueren das Eiland und entdecken auf einer kleinen Hochebene zu ihrer Überraschung eine Marihuana-Plantage, die von bewaffneten Thais bewacht wird.
Ohne bemerkt zu werden, kommen sie an den Männern vorbei und gelangen zu einem Wasserfall. Steil fallen die Felsen zu beiden Seiten des Wasserfalles ins Meer ab. Weit unten sehen sie eine von den Felsen abgeschirmte Lagune - mit einem weissen Strand.
Der Wasserfall war etwa so hoch wie ein vierstöckiges Haus. Um abzuschätzen, wie tief es hinunterging, musste ich auf dem Bauch bis an die Kante der Steilwand kriechen. Ich fürchtete, sonst den Gleichgewichtssinn zu verlieren.
Die höchsten Bäume am Fusse des Wasserfalls reichten bis zu uns herauf und höher. Wenn sie ein bisschen näher bei der Wand gestanden hätten, dann hätten wir sie benutzen können, um hinunterzukommen - denn der Abstieg war das Problem. Es ging zu steil und zu tief hinunter, als dass an Klettern zu denken gewesen wäre.
"Was meint ihr?" fragte ich, als ich von der Kante zu Etienne und Françoise zurück-gekrochen kam.
"Wir könnten springen", schlug Françoise vor. "Zum Springen, hier, beim Wasserfall ist es nicht zu hoch. Und es muss doch einen Weg hinunter geben, nicht? Wenn Leute zu diesem Strand kommen, dann muss es einen Weg geben."
"Wenn Leute zu diesem Strand kommen", wandte ich ein.
Wir sahen kein Anzeichen dafür, dass dort unten irgend jemand war. Ich hatte die Vorstellung gehabt, dass wir an diesem Strand lauter freundliche Rucksackgefährten mit von der Sonne geküssten Gesichtern vorfinden würden - Leute, die dort herumhingen, nach Korallen tauchten und Frisbee spielten. So in der Art. Doch der Strand sah nach allem, was wir erkennen konnten, zwar wunderschön, aber völlig verlassen aus.
"Okay", flüsterte ich.
Vorsichtig stand ich auf und setzte den einen Fuss zwei Fingerbreit vor den Abgrund.
"Willst du es wirklich tun?", rief mir Etienne, nervös werdend, zu.
Ich war ganz in Gedanken versunken, als etwas passierte. Ich hatte es plötzlich satt, wie schwierig diese Reise geworden war. Und dieser Überdruss hatte eine Wirkung. Für ein paar entscheidende Augenblicke befreite er mich von der Angst, was da unten geschehen könnte. Ich hatte genug. Ich wollte es hinter mich bringen.
"Dann spring doch", hörte ich meine Stimme sagen.
Ich zögerte. Ich fragte mich, ob das wirklich noch ich war. Und dann tat ich es. Ich sprang.
Ziemlich gut für einen FNG!
(4)
Alles kam, wie es kommen soll, während man fällt. Dummes Zeug zuckte mir durch den Kopf - zum Beispiel, wie meine Katze einmal vom Küchentisch rutschte und auf den Kopf fiel, und wie ich mich einmal beim Kopfsprung vom Turm verschätzte und das Wasser wie Holz war. Nicht wie Beton oder Metall, sondern wie Holz.
Dann prallte ich in das Wasser des Beckens, mein T-Shirt schoss mir über die Brust hinauf, und Sekunden später kam ich wieder an die Oberfläche. Das Becken war so tief, dass ich den Grund nicht mal berührt hatte.
"Hah!" schrie ich und schlug mit beiden Armen ins Wasser. "Ich lebe noch!"
Ich sah hoch und sah Étienne und Françoise; sie schoben die Köpfe über die Felskante.
"Alles okay?" rief Étienne.
"Mir geht's gut! Ausgezeichnet!" Dann fühlte ich etwas in der Hand. Ich hielt immer noch meine Zigarette fest - der Tabak war weg, aber der braune, durchnässte Filter klebte in meiner Faust. Ich fing an zu lachen.
*
Der Mann erschien, als ich im Gras am Rande des Beckens sass und darauf wartete, dass Étienne und Françoise mir folgten. Wären nicht seine Gesichtszüge und sein Vollbart gewesen, ich hätte wohl kaum erkannt, dass er ein Weisser war. Seine Haut war dunkel wie die eines Asiaten, er trug nichts als ein Paar zerfetzte blaue Shorts und eine Halskette aus Muscheln. Wegen des Bartes war es schwer, sein Alter zu schätzen, aber ich nahm an, dass er nicht viel älter war als ich.
"Hey", sagte er und legte den Kopf schräg. "Ziemlich gut für einen FNG."
"Wen nennst du hier einen FNG?" fragte ich.
Der Mann zögerte. "Warst du denn schon mal hier?"
FNG. Jetzt wusste ich es. Einer, der seinen Militärdienst in Vietnam antrat. Ein Neuling. Ein Fucking New Guy.
*
Wir folgten dem Mann zwischen den Bäumen hindurch. Ein paarmal überquerten wir den Bach, der sich vom Wasserfall her durch den Dschungel schlängelte, und ein paarmal kamen wir an Lichtungen - auf einer glomm ein Lagerfeuer, und verkohlte Fischlöpfe waren ringsum verstreut.
Wir sprachen nicht viel. Das einzige, was der Mann uns verraten wollte, war sein Name: Jed. Alle anderen Fragen wischte er beiseite.
"Es ist einfacher, wenn wir das alles im Lager besprechen", meinte er. "Wir haben genauso viele Fragen. Fragen an euch."
***
Hier fängt das Buch erst richtig an. Die Bewohner des Strandes - alles junge Rucksacktouristen - bilden eine verschworene Gemeinschaft und leben vom Fische fangen und Früchte sammeln. Den Reis, Zigaretten und Batterien für ihre Walkmans holen sie einmal pro Monat vom Festland, das Marihuana stehlen sie von der illegalen Plantage, die sich auf der anderen Seite der Insel befindet.
In den ersten Kapiteln des Buches ahnt man es schon: Das vermeintliche Paradies, das Richard entdeckt hat, entpuppt sich als Albtraum. Die verschworene Strandgemeinschaft vernichtet sich selbst.
Was nicht unerwähnt bleiben darf: Auch der Strand selbst, auf dem - nach der Romanvorlage - der gleichnamige Film gedreht wurde, ist inzwischen verwüstet worden. Der Tsunami am Ende des Jahres 2004, könnte man sagen, hat dem Garten Eden den Rest gegeben.
Es ist ein faszinierendes, unheimliches und unglaublich aktuelles Buch - ein Buch, das uns heilt vor mancher Illusion. Nach dem erlösenden, aber auch ernüchternden Schluss der Geschichte bleibt uns im Grunde nur einmal mehr die Erkenntnis: Das Paradies gibt es nirgends auf dieser Welt. Ausser vielleicht in unseren Herzen.
zum AnfangMark Twain: Prinz und Bettelknabe
Mark Twain
Prinz und Bettelknabe
Eines der schönsten klassischen Kinderbücher, die ich kenne, ist Mark Twains "Prinz und Bettelknabe" aus dem Jahre 1881. Nur schon die ersten Sätze des Buches (hier zuerst im englischen Original) zeugen von der Meisterschaft des Autors - und verlocken zum Weiterlesen.
(1)
"In the ancient city of London, on a certain autumn day in the second quarter of the sixteenth century, a boy was born to a poor family of the name of Canty, who did not want him. On the same day another English child was born to a rich family of the name of Tudor, who did want him. All England wanted him too..."
"An einem gewissen Herbsttage im zweiten Viertel des 16. Jahrhunderts wurde in der alten Stadt London einer armen Familie namens Canty ein Knabe geboren, den sie gar nicht haben wollte.
Am selben Tage kam auch in einer reichen Familie namens Tudor ein englisches Kind zur Welt - dessen Familie es sehr wohl haben wollte. Ganz England wollte es haben. England hatte sich so sehr nach ihm gesehnt, es herbeigehofft und von Gott erfleht, dass die Menschen nun, wo es tatsächlich angekommen war, vor Freude beinahe toll wurden.
London bot ein prächtiges Schauspiel: Banner in fröhlichen Farben wehten von allen Balkons und Dächern, glanzvolle Umzüge bewegten sich durch die Strassen, bei Nacht brannten an jeder Ecke grosse Freudenfeuer, und ringsherum belustigten sich Scharen von fröhlichen Menschen.
In ganz England wurde von nichts anderem gesprochen als von dem Neugeborenen, von Eduard Tudor, dem Prinzen von Wales, der, in Seide und Damast gehüllt, dalag, von all dem Aufruhr nichts wusste.
Von dem anderen Säugling aber, von Tom Canty, der in elende Lumpen gewickelt dalag, wurde nicht gesprochen, ausser in der Bettlerfamilie, die er mit seiner Ankunft nur in Sorge versetzte."
Ein lebendiger, richtiger Prinz
Tom Canty, der Bettelknabe, träumt davon, ein Prinz zu sein. Eines Tages kommt er am Westminsterpalast vorbei...
„Sollte sich sein Herzenswunsch endlich erfüllen? Hier stand tatsächlich ein Königspalast. Durfte er nicht hoffen, jetzt einen Prinzen zu erblicken, einen Prinzen aus Fleisch und Blut, wenn es dem Himmel gefiele?
Tom in seinen Lumpen trat näher und ging langsam und sehnsüchtig, mit klopfendem Herzen und neu erwachender Hoffnung an den Wachen vorbei - als er plötzlich durch die goldenen Gitterstäbe ein Schauspiel gewahrte, das ihn vor Freude fast aufjubeln liess.
Drinnen stand ein anmutiger Knabe, dessen Kleidung, ganz aus Atlas und köstlicher Seide, von Juwelen glitzerte. In seiner Nähe standen mehrere prächtig gekleidete Herren – gewiss seine Diener. Oh, es war ein Prinz – ein lebendiger, richtiger Prinz. Tom atmete vor Erregung in kurzen, heftigen Stössen, und seine Augen wurden vor Staunen und Entzücken immer grösser.
Bevor er wusste, was er tat, hielt er das Gesicht gegen die Gitterstäbe gepresst. Im nächsten Augenblick riss ihn einer der Soldaten grob von dort weg und stiess ihn zurück in die gaffende Menge. Er sagte zu Tom:
„Benimm dich, du Betteljunge!“
Die Menge höhnte und lachte; der junge Prinz aber sprang mit zorngerötetem Gesicht und vor Empörung blitzenden Augen ans Tor und rief:
„Wie kannst du es wagen, den armen Knaben also zu behandeln! Öffne das Tor! Lasse ihn herein!“
Ihr hättet sehen sollen, wie die wankelmütige Menge sich da den Hut herunterriss, wie sie Hochrufe ausstiess und schrie:
„Es lebe der Prinz von Wales!“
Die Soldaten öffneten das Tor und präsentierten die Hellebarden, während der kleine Prinz der Armut in seinen flatternden Lumpen hindurchschritt, um seine Hand in die des Prinzen des unbegrenzten Wohlstands zu legen.
Eduard Tudor sagte: „Du siehest müde und hungrig aus; du bist übel behandelt worden. Komm mit mir.“
Nimm dies, du Bettlerbrut!
Der Prinz von Wales lädt den Bettelknaben zu sich ins Schloss ein. Tom schildert dem Prinzen sein armseliges und dennoch freies Leben - worauf dieser sagt:
"Wenn ich mich nur einmal in einen Rock wie deinen kleiden könnte, wenn ich mit nackten Füssen laufen und nur ein einziges Mal im Schlamm schwelgen dürfte, ohne dass man mich tadelt - mich deucht, ich könnte auf die Krone verzichten!"
"Und wenn ich mich doch nur einmal kleiden könnte wie du, lieber Herr, nur ein einziges Mal..."
"Oho, würde dir das gefallen?" sprach der Prinz. "Dann soll es geschehen. Ziehe deine Lumpen aus und kleide dich in mein Prachtgewand, Knabe! Es wird zwar nur ein kurzes Glück sein, aber deshalb nicht weniger gross. Wir werden es geniessen, so lange wir können, und die Sachen wieder tauschen, ehe denn einer kommet und uns störet."
Einige Minuten später war der Prinz von Wales mit Toms flatternden Fetzen geschmückt und der Prinz der Armut mit dem glänzenden königlichen Gefieder ausstaffiert. Die beiden gingen zu einem grossen Spiegel - und siehe: ein Wunder war geschehen!
Sie starrten zuerst einer den andern, dann den Spiegel und danach wieder einander an. Schliesslich sagte der erstaunte junge Prinz:
"Wie erklärest du dir das?"
"Ach, liebe Hoheit, verlang von mir nicht, dass ich darauf antworte. Es schicket sich nicht, dass einer meines Standes die Sache ausspricht."
"Dann werde ich sie aussprechen", sagte der Prinz von Wales. "Du hast das gleiche Haar, die gleichen Augen, die gleiche Stimme und Art, dieselbe Gestalt und Grösse wie ich. Wenn wir nackt hinausgingen, könnte niemand sagen, welches du bist und welches der Prinz von Wales. Jetzt, da ich gekleidet bin, wie du es warest, scheinet mir, ich könnte eher nachempfinden, wie dir zumute war, als der brutale Soldat am Tor dich misshandelte. Es war schändlich und grausam!"
Der Prinz stampfte mit dem nackten Fuss auf. "Rühre dich nicht einen Schritt weit von hinnen, bis ich wiederkomme. Ich gebiete es dir!"
Im Nu war er zur Tür hinaus und flog in seinen flatternden Fetzen mit heissem Gesicht und blitzenden Augen übers Palastgelände. Am Tor angelangt, packte er die Gitterstäbe, versuchte daran zu rütteln und rief:
"Öffne! Riegle das Tor auf!"
Der Soldat, der Tom geschlagen hatte, gehorchte unverzüglich. Doch sobald der Prinz, von königlicher Wut halberstickt, durch das Portal gestürzt war, versetzte ihm der Bewaffnete eine Ohrfeige, die ihn die Strasse hinuntertrudeln liess, und meinte grob:
"Nimm dies, du Bettlerbrut, für das, was du mir vorher von Seiner Hoheit eingebrockt hast!"
Die vor dem Tor versammelte Menge brüllte vor Lachen.
Der Prinz jedoch erhob sich aus dem Schlamm, stürzte sich wutentbrannt auf die Wache und schrie:
"Ich bin der Prinz von Wales, meine Person ist heilig, und du sollst hängen, weil du Hand an mich gelegt hast!"
Der Soldat präsentierte die Hellebarde und sagte spottend: "Ich grüsse Eure Allergnädigste Hoheit! Mach, dass du fortkommst, du verrückter Dreckspatz!"
Jetzt schloss sich die höhnende Menge um den armen Prinzen und johlte und schrie:
"Platz für Seine Königliche Hoheit! Platz für den Prinzen von Wales!"
Schluss
Das ist nur der Beginn einer Odyssee mit ungeahnten Folgen - für beide Knaben. Der Prinz lernt ein Bettelknabe zu sein, und der Bettelknabe führt ein Leben als Königliche Hoheit. Beide erleben, wie es herauskommt, wenn man sich wünscht, ein anderer zu sein..
Der amerikanische Dichter Mark Twain (1835-1910) - berühmt geworden vor allem mit "Tom Sawyer & Huckleberry Finn" - schrieb das Buch "Der Prinz und der Bettelknabe" 1881.
zum AnfangJean de Lery: Brasilianisches Tagebuch 1556-1558
Jean de Lery
Brasilianisches Tagebuch
1556-1558
Im Jahre 1555 brach der junge Hugenotte Jean de Léry, der in Genf Theologie studierte, an Bord eines französischen Schiffes nach Südamerika auf. Sein Ziel war eine französische Niederlassung in der Bucht des heutigen Rio de Janeiro, wo er die brasilianischen Ureinwohner für den protestantischen Glauben zu gewinnen hoffte. Die fremde Welt lockte ihn, und er notierte alles, was er sah und erlebte, in sein Tagebuch.
Sein Werk gilt bis heute als eines der frühesten und faszinierendsten Zeugnisse jener unbekannten Zivilisation, die die Europäer damals entdeckten. Ebenso aufschlussreich ist die Haltung von Jean de Lery selbst: Er lächelt über die nackten, gottlosen Wilden - und bewundert sie.
(1)
So nahe dem Ziel unserer Wünsche
Wie wir das Land Brasilien - und die Wilden, die dort wohnen, zum erstenmal sahen.
"Etwa gegen acht Uhr morgen kam Westindien oder das Land Brasilien in Sicht. Dieser vierte Erdteil, der den Alten noch unbekannt war, wird Amerika genannt, nach dem Namen dessen, der es 1497 entdeckte.
Nun, es bedarf wohl nicht der besonderen Erwähnung, dass wir höchst erfreut waren und von ganzem Herzen Gott dankten, jetzt so nahe dem Ziel unserer Wünsche und bald an Land zu sein. Immerhin segelten wir schon vier Monate lang, ohne einen Hafen angelaufen zu haben, auf hoher See. Wir waren uns oft wie Ausgewiesene vorgekommen, die niemals zurückkehren.
Da wir günstigen Wind hatten, hielten wir direkt auf die Küste zu. Noch am gleichen Tag stieg das Land vor uns auf; wir gingen, eine halbe Meile von ihm entfernt, vor Anker. Um die Bewohner von unserem Eintreffen zu unterrichten, gaben wir - wie das üblich ist - einige Kanonenschüsse ab. Sogleich sahen wir an der Küste viele Männer und Frauen erscheinen.
Unser Bootsmann, der in ihrer Sprache ein wenig radebrechen konnte, ging mit einigen Matrosen ins Beiboot und fuhr ans Gestade. Dort sahen wir die Wilden inzwischen in grossen Gruppen versammelt. Unsere Leute trauten ihnen nur unter grossen Vorsichtsmassnahmen. Um der Gefahr vorzubeugen, gefangen und geräuchert - das heisst gebraten - zu werden, näherten sie sich dem Land nur soweit, dass sie ausserhalb der Reichweite ihrer Pfeile blieben.
Dann zeigten sie den Wilden von weitem Messer, Spiegel, Kämme und andere Kleinigkeiten, um sie gegen Lebensmittel einzutauschen. Einige Wilde kamen so nahe wie möglich heran, hörten zu und holten darauf eifrig das Verlangte herbei.
Unser Bootsmann brachte uns bei seiner Rückkehr das aus einer Wurzel gewonnene Mehl mit, das die Eingeborenen anstelle von Mehl essen. Ferner brachte er Schinken und Fleisch von einer Wildschwein-Art mit sowie reichlich Früchte, wie sie das Land hervorbringt.
Vor allem aber hatte er sechs Männer und eine Frau bei sich, die er uns aus der Nähe zeigen wollte. Sie waren ohne weiteres bereit, zu uns an Bord zu kommen."
(2)
Als kämen sie soeben aus dem Mutterleib
"Dies waren die ersten Wilden, die ich aus nächster Nähe zu sehen bekam. Man kann sich denken, dass ich sie sehr aufmerksam betrachtete.
Zunächst möchte ich erwähnen, dass sowohl die Männer als auch die eine Frau völlig nackt waren - als kämen sie soeben aus dem Mutterleib. Als einzigen Putz hatten sie sich den ganzen Körper bemalt oder schwarz gefärbt. Die Männer waren von der Stirn ab geschoren - vergleichbar mit der Tonsur eines Mönches -, während sie am Hinterkopf lange Haare trugen.
Bei allen waren die Unterlippen mit Löchern durchbohrt; jeder trug dort einen schön polierten grünen Stein, der sehr ordentlich eingefügt war. Sie tragen diese Steine, da sie glauben, durch sie besser geschützt zu sein.
Was die Frau betrifft, so hatte sie die Lippe nicht durchbohrt; auch trug sie, wie alle Frauen dort, das Haar lang. Ihre Ohren jedoch waren so scheusslich durchlöchert, dass man hätte bequem den Daumen durch die Löcher stecken können. Sie trug ein schweres Ohrgehänge aus weissen Knochen, das ihr bis auf die Schultern herabhing.
Nachdem die Wilden mit grossem Erstaunen unsere Artillerie und alles andere, was sie an Bord interessierte, bewundert hatten, wollten sie von uns wieder an Land gebracht werden. Da Geld für sie keinen Wert hat, bezahlten wir für die Lebensmittel, die wir von ihnen erhalten hatten, mit Hemden, Messern, Angelhaken, Spiegeln und anderen für diese Völker geeigneten Gegenständen. Und so trugen sie beim Abschied die Hemden. Als sie sich aber ins Boot setzten, zogen sie sie bis über den Nabel hoch - um sie nicht zu beschmutzen. Damit entblössten sie wieder, was sie wohl besser verdeckt hätten..."
(3)
Voller Freude spazierten sie nackt herum
"Zu den seltsamsten Tatsachen, die ich bei den brasilianischen Frauen beobachtet habe, gehört folgendes: Sie bemalen sich den Körper, die Arme, die Schenkel und die Beine nicht so oft wie die Männer. Sie bedecken sich auch nicht mit Federn oder sonstigen Dingen, die in ihrem Lande wachsen. Trotzdem ist es uns nie gelungen, sie zum Anlegen von Kleidern zu bewegen.
Bei den Männern gelang uns das zuweilen, und manchmal zogen sie die Sachen sogar an. Die Frauen jedoch blieben ausserordentlich hartnäckig. Sie duldeten nicht die geringste Kleinigkeit an ihrem Körper - was es auch sei.
Um sich von solchem Zwang befreien und ständig nackt sein zu können, berufen sie sich auf folgende, dort übliche Gewohnheit: An jeder Quelle und an jedem klaren Fluss, denen sie begegnen, kauern sie sich nieder oder gehen ins Wasser und schütten sich mit beiden Händen Wasser über den Kopf.
Sie waschen sich und tauchen dabei, wie es die Enten tun, den ganzen Körper unter Wasser. Das geschieht oft mehr als zwölfmal pro Tag. Sie sagen, es mache ihnen zuviel Mühe, sich so häufig auszuziehen. Ist das nicht eine schöne und stets gültige Begründung?
Die brasilianischen Frauen lieben ihre Nacktheit so sehr, dass sie auf dem Boden in voller Freiheit mit ihren Männern und Brüdern liegen bleiben und sich weigern, sich zu bedecken.
Jene Frauen, die wir gekauft hatten und als Gefangene bei uns arbeiten liessen, zwangen wir mithilfe von Peitschenhieben, sich anzukleiden. Aber mitten in der Nacht warfen sie heimlich die Hemden und anderen Kleider ab, die wir ihnen gegeben hatten, und spazierten nackt herum - voller Freude."
(4)
Das Tier hielt inne und musterte uns. Seine Augen funkelten.
"Eines Tages machte ich mich mit zwei anderen Franzosen auf den Weg ins Landesinnere. Dabei begingen wir den Fehler, keinen eingeborenen Führer mitzunehmen. Wir verirrten uns in den Wäldern; als wir durch ein tiefes Tal wanderten, hörten wir ein sich uns näherndes, beängstigendes Geräusch.
Wir nahmen an, es handele sich um einen Wilden - plötzlich aber erblickten wir rechts vor uns auf einem Abhang eine Eidechse, die erheblich grösser war als ein Mann und sechs bis sieben Fuss lang war (= über 2 m). Bedeckt war sie mit weisslichen, sehr rauhen und holprigen Schuppen, die etwa das Aussehen von Austernschalen hatten.
Das Tier hielt inne und musterte uns. Es hatte die Vorderfüsse erhoben und den Kopf hoch aufgerichtet; seine Augen funkelten.
Wir hatten weder Büchsen noch Pistolen bei uns, sondern nur Degen; ferner hatte jeder von uns, nach Art der Wilden, einen Bogen mit Pfeilen in der Hand. Das waren Waffen, die uns gegenüber dem wütenden Tier, das durch seinen Panzer so gut geschützt war, wenig nützten. Wir fürchteten auch, dass die Echse - flohen wir - schneller als wir sein könnte. Holte sie uns aber ein, würde sie uns verschlingen. Wir waren so entsetzt, dass wir uns gegenseitig nur anstarrten und wie versteinert auf der Stelle verharrten.
Die schauerliche und entsetzliche Eidechse öffnete den Rachen und blies so stark die Luft aus, dass wir nichts mehr anderes hören konnten. Da es Mittag war, brannte die Sonne sehr heiss. Das Tier betrachtete uns etwa eine Viertelstunde lang. Dann drehte es sich plötzlich um und floh in die Richtung der Berge. Dabei verursachte es mehr Lärm und Getöse als ein durch ein Dickicht brechender Hirsch.
Wir aber hatten tückische Angst ausgestanden und verspürten keinerlei Wunsch, dem Tier nachzulaufen. Vielmehr dankten wir Gott, der uns von dieser Gefahr befreit hatte, und gingen unserer Wege. Später hörte ich, dass manche Leute der Ansicht sind, die Eidechse ergötze sich am Anblick des Menschen. Ebenso gross wie unsere Furcht muss das Vergnügen gewesen sein, das wir dem Tier mit unserem Auftritt bereiteten."
(5)
Unsere verzärtelten Damen...
"Ist eine Brasilianerin schwanger, so achtet sie nur darauf, keine schweren Lasten zu tragen. Sonst aber verrichtet sie ihre Arbeiten wie immer. Die Frauen unserer Wilden arbeiten ohnehin viel mehr als die Männer. Mit Ausnahme jener Tage, an denen sie Holz schlagen und Bäume roden, um ihre Gärten anzulegen, tun die Männer nichts weiter als in den Krieg, auf die Jagd oder zum Fischfang zu ziehen; oder sie befassen sich mit der Herstellung ihrer Holzsäbel, Bogen, Pfeile und Federumhänge, mit denen sie ihre Körper schmücken.
Über die Geburten kann ich wahrheitsgemäss folgendes berichten: Einmal schliefen ein anderer Franzose und ich in einem Dorf. Gegen Mitternacht hörten wir die Schreie einer Frau. Zunächst dachten wir, sie würde von einem wilden Tier fortgeschleppt, und wollten sofort zu Hilfe eilen.
Es handelte sich aber um eine Frau, die in den Geburtswehen lag und daher so schrie. Gleichzeitig sah ich den Vater, der das Kind in Empfang nahm, ihm die kleine Nabelschnur abband und diese dann mit den Zähnen durchbiss. Er betätigte sich wie eine Hebamme.
Während man bei uns nach der Geburt – der Schönheit wegen – die Nase der Neugeborenen langzieht, drückte der Wilde seinem Kind mit dem Daumen die Nase ein, weil sie dort stumpfnasige Kinder hübscher finden.
Sobald das Kind den Mutterleib verlassen hat, wäscht es der Vater gründlich und bemalt es dann sofort mit roten und schwarzen Farben. Darauf legt er es ohne Windeln in ein Baumwollbett, das aufgehängt ist wie eine Hängematte. Handelt es sich um einen Knaben, fertigt ihm der Vater einen Holzsäbel, einen kleinen Bogen und kleine Pfeile, die mit Papageienfedern befiedert sind. Das alles legt er neben dem Neugeborenen nieder, küsst es mit lachendem Gesicht und sagt:
„Mein Sohn, wenn du in das Alter kommst, wo du dich an deinen Feinden rächen kannst, sei geschickt, tapfer und abgehärtet.“
Als Nahrung erhält das Kind etwas zerkautes Mehl und zarte Fleischarten mit Muttermilch. Die Mutter übrigens bleibt nie länger als einen oder zwei Tage im Bett. Dann trägt sie das Kind in einer um den Hals gehängten Binde. So geht sie dann in den Garten oder übt andere Tätigkeiten aus.
Ich möchte zwar unseren europäischen Damen keine Vorwürfe machen, weil sie nach der Geburt gewöhnlich zwei bis drei Wochen im Bett bleiben. Aber die meisten dieser Damen sind so zart, dass sie - wiewohl sie an keiner Krankheit leiden - ihre Neugeborenen weggeben. Erst wenn die Kleinen etwas grösser sind, werden sie als Zeitvertreib wieder bei den Müttern geduldet.
Um allen Erwiderungen zuvorzukommen, sage ich diesen Damen, dass sie verzärtelter sind, als es eine frühere Königin von Frankreich war. Nachdem sie erfahren hatte, ihr Kind hätte an der Brust einer anderen Frau gelegen, gab sie nicht eher Ruhe, bis das Kind die Milch der Amme wieder herausgab."
Schluss
zum AnfangKhalil Gibran: Der Prophet (1923)
Khalil Gibran
Der Prophet
(1)
Von der Religion
Zur aktuellen Auseinandersetzung zwischen dem Islam und der westlichen Welt einige Zeilen, die dem Islam - aber auch uns gewidmet sind.
Und ein alter Priester sagte: »Sprich zu uns von der Religion.«
Er aber erwiderte:
»Habe ich denn heute von etwas anderem gesprochen? Ist nicht jede Tat und jedes Sinnen Religion?
Und ist sie nicht gleichzeitig ein Wunder und ein Staunen, das beständig der Seele entspringt, selbst während die Hände den Stein behauen oder den Webstuhl bedienen?
Wer kann seinen Glauben von seinen Taten trennen, seine Überzeugung von seinem Tun?
Wer kann seine Stunden vor sich ausbreiten und sagen: 'Dies ist für Gott, und dies für mich, dies für meine Seele, und dies für den Körper?'
All eure Stunden sind Flügel, die von Ich zu Ich durch den Raum gleiten.
Wer seine Moral bloss wie sein bestes Gewand trägt, der ginge besser nackt.
Der Wind und die Sonne werden ihm keine Löcher in seine Haut reißen.
Und wer seinen Lebenswandel nach den Sittenlehren richtet, der sperrt seinen Singvogel in einen Käfig.
Selbst das freieste Lied dringt nicht durch Gitterstäbe und Draht.
Und der, für den die Anbetung ein Fenster ist, das man öffnen, aber ebensogut verschließen kann, der hat das Haus seiner Seele noch nicht aufgesucht, dessen Fenster von einer Morgenröte zur anderen reichen.
Euer tägliches Leben ist euer Tempel und eure Religion.
Wann immer ihr ihn betretet, nehmt euren ganzen Besitz mit.
Und wenn ihr Gott kennenlernen wollt, dann macht euch nicht daran, Rätsel zu entziffern.
Schaut euch lieber um, und ihr werdet sehen, wie Er mit euren Kindern spielt.
*
Wer kennt nicht das Buch "Der Prophet" von Khalil Gibran? Die berühmtesten Texte darin sind sicher jene über die Ehe und über die Kinder ("Eure Kinder sind nicht eure Kinder"). Khalil Gibran kam 1883 im Libanon auf die Welt und emigrierte mit seinen Eltern schon früh in die USA, wo er danach die meiste Zeit seines Lebens verbrachte. Er war ein Maler, ein Dichter & Philosoph, und "Der Prophet" ist sein Hauptwerk. Gibran starb 1931.
Ich habe den Text "Über die Religion" leicht gekürzt wiedergegeben. Jeder Satz darin ist ein Kleinod - und dasselbe gilt für das ganze Buch.
zum AnfangConsuelo de Saint-Exupéry: Die Rose des Kleinen Prinzen
Die Rose des kleinen Prinzen
Aus den Erinnerungen von Consuelo de Saint-Exupéry
"Mir zum Beispiel genügen eine Blume, ein weisses Tischtuch und das Geräusch Ihrer Schritte."
Consuelo zu ihrem Mann, Antoine de Saint-Exupéry
Alle kennen den „petit prince", alle bewundern und lieben ihn, obwohl sie vielleicht nicht alles verstehen. Auch ich habe diese Bewunderung für das Buch. Aber noch mehr interessiert mich – wie eigentlich immer -, wer der Mensch war, der es geschrieben hat.
Und so bin ich auf die Erinnerungen von Consuelo de Saint-Exupéry gestossen. Sie war seine Frau, und sie trauerte um ihn bis zuletzt. Wie man weiss, starb er - der nicht nur Poet, sondern auch Pilot war - 1944 bei einem Flugzeugabsturz. Man hat ihn nie gefunden.
Bereits 1945 schrieb seine Witwe ihre Memoiren – ohne sie publizieren zu wollen. Erst vor wenigen Jahren, zu ihrem 20. Todestag und zum 100. Geburtstag von Saint-Exupéry, ist das Buch im Nachlass erschienen.
Die aus El Salvador stammende, damals frisch verwitwete Malerin und Bildhauerin Consuelo Sandoval trifft Antoine das erstemal 1930 in Buenos Aires, wo der junge französische Flieger für die Südamerika-Frankreich-Linie unterwegs ist. Er war 31 in jenem Jahr, sie 29. Noch am Tag ihrer ersten Begegnung lädt er Consuelo – und einige Freunde – zu einem Rundflug ein und besteht darauf, dass sie neben ihm sitzt...
(1)
Der Heiratsantrag
Wir flogen über Ebenen und Wasser. Mein Magen protestierte. Ich spürte, wie ich blass wurde und stiess einen tiefen Seufzer aus. Zum Glück übertönte der Motorenlärm mein Stöhnen. Plötzlich stellte Saint-Exupéry den Motor ab.
„Sind Sie schon oft geflogen?"
„Nein, dies ist das erste Mal", antwortete ich schüchtern.
„Und, gefällt es Ihnen?" fragte er und betrachtete mich mit amüsierter Miene.
„Nein, ich finde es bloss seltsam."
Er arretierte den Steuerknüppel, um mir ins Ohr zu sprechen. Darauf zog er die Maschine hoch und amüsierte sich damit, uns allen Angst einzujagen, indem er Loopings drehte. Ich lächelte.
Er legte die Hand auf meine Knie und streckte mir die Wange entgegen.
„Würden Sie mich küssen?" fragte er.
„Aber Monsieur de Saint-Exupéry, Sie wissen, dass man in meinem Land nur Menschen küsst, die man mag. Ich bin noch nicht lange Witwe, wie könnte ich Sie da küssen?"
Er biss sich auf die Lippen, um ein Lächeln zu unterdrücken.
„Küssen Sie mich, oder ich lasse die Maschine abstürzen", befahl er und tat, als wollte er das Flugzeug tatsächlich ins Meer stürzen lassen.
Vor Wut kaute ich auf meinem Taschentuch. Warum sollte ich diesen Mann küssen, den ich eben erst kennengelernt hatte? Ich fand seinen Scherz ziemlich geschmacklos.
„Ergattern Sie auf diese Weise Küsse von Frauen?" fragte ich. „Bei mir funktioniert das nicht. Ich habe genug von diesem Flug. Wenn Sie etwas Gutes tun wollen, dann landen Sie. Ich habe gerade erst meinen Mann verloren und bin traurig."
„Oh! Wir stürzen ab!", rief er aus.
„Ist mir ziemlich gleich!"
Da sah er mich an und startete von neuem den Motor. „Ich weiss, Sie küssen mich nicht, weil ich zu hässlich bin."
Ich sah Tränen wie Perlen aus seinen Augen rollen und auf seine Krawatte tropfen, und mein Herz zerfloss vor Zärtlichkeit. So gut ich konnte, beugte ich mich zu ihm hinüber und küsste ihn.
Er erwiderte den Kuss heftig, und so verharrten wir zwei oder drei Minuten, während die Maschine stieg und sank und er den Motor immer wieder an- und abstellte. Allen Passagieren war übel.
„Sie sind nicht hässlich", sagte ich endlich, „aber Sie sind zu stark für mich. Sie küssen nicht, sondern Sie beissen, Sie verschlingen mich. Ich will landen."
„Verzeihen Sie mir, ich verstehe nicht viel von Frauen. Ich liebe Sie, weil Sie ein Kind sind und Angst haben."
„Ich halte Sie für ein bisschen verrückt."
„Das kommt Ihnen nur so vor. Ich tue, was ich will, selbst wenn es mir schadet."
„Ich habe keine Lust ohnmächtig zu werden. Lassen Sie uns landen!"
„Auf gar keinen Fall. Sehen Sie da unten: der Rio de la Plata."
„In Ordnung, der Rio de la Plata. Ich hätte lieber die Stadt gesehen!"
„Ich hoffe, dass Sie nicht luftkrank sind."
„Nur ein bisschen."
„Hier, eine kleine Pille. Strecken Sie die Zunge heraus."
Er schob mir die Tablette in den Mund und knetete aufgewühlt meine Hände.
„Was für winzige Hände! Kinderhände! Schenken Sie sie mir für immer!"
„Aber ich möchte mir doch nicht die Hände amputieren lassen!"
„Wie albern Sie sind! Ich bitte Sie, mich zu heiraten. Ich liebe Ihre Hände, und ich möchte sie für mich ganz allein besitzen."
„Sie kennen mich doch erst seit wenigen Stunden!"
„Sie werden schon sehen, Consuelo. Sie werden mich heiraten."
(2)
Wir sprachen nie wieder davon
Consuelo hat den "Kleinen Prinzen" geheiratet und folgt ihm überall hin, wo er als Pilot eine Anstellung hat. Während er durch die Himmel fliegt, sitzt sie zu Hause und wartet auf ihn. Endlich ziehen sie nach Paris, und Saint-Exupéry feiert seine ersten Erfolge als Schrifsteller. Doch das häusliche Glück liegt ihm nicht - immer wieder kehrt er zurück zum Pilotenberuf.
Eines Tages, als er in Saint-Laurent bei Toulouse stationiert ist, verliebt sich Consuelo, die in Paris zurückblieb, in den Dichter André, der mit ihnen befreundet ist. Auf das Drängen Andrés entschliesst sie sich, nach Toulouse zu fahren und sich zu trennen von ihrem Mann...
Ich fuhr dritter Klasse nach Toulouse. Mein Mann war nicht zum Bahnhof gekommen, wie ich gehofft hatte. Ich ging in sein Hotel. Als ich eintrat, bat er mich, ihn bis ein Uhr schlafen zu lassen! Ich wartete in seinem Zimmer, das stark nach Tabakrauch und abgestandener Luft roch. Und nach dem Leder der Fliegerkluft.
Nervös ging ich immer wieder die Rede durch, die ich ihm bei seinem Erwachen halten wollte. In Gedanken wiederholte ich Andrés Worte. Ich wollte meine Mission erfüllen. Aber da trat ein gemeinsamer Freund ins Zimmer, der Pilot Dubordier.
"Kommst du zum Mittagessen?"
"Nein", antwortete Tonio, "führ lieber meine Frau aus. Wir haben Sonntag, und ich mag es nicht, meine Frau sonntags in ein Restaurant zu begleiten. Danke - du rettest mir meinen Schlaf. Sie soll danach wieder abfahren; bring sie zum Zug. Ich muss in einer Stunde nach Saint-Laurent. Auf Wiedersehen, Consuelo. Küssen Sie mich, meine Frau."
"Aber Tonio, dazu bin ich nicht hergekommen. Ich möchte mit dir reden."
"Ich verstehe. Wahrscheinlich willst du Geld. Nimm dir alles, was du willst, Liebste. Ich kann von Kaffee und Croissants leben."
Ich fuhr nach Paris zurück.
"Ach, André", gestand ich, "ich konnte es ihm nicht sagen."
"Warum nicht?"
"Er hat geschlafen."
"Du liebst mich nicht, Consuelo. Dann schreib ihm eben."
"O ja, das könnte ich."
Und der Brief ging ab. Als Tonio ihn erhielt, nahm er sofort ein Flugzeug und war bei mir.
"Ja", sagte ich, "ja, ich werde mit André gehen."
"Wenn du mich verlässt, sterbe ich", sagte mein Mann, "Ich flehe dich an, bleib bei mir. Du bist meine Frau."
"Aber ich liebe André, Tonio. Es tut mir leid, wenn ich dir wehtue. Du hast mir keine Nachricht aus Saint-Laurent zukommen lassen. Ich habe geglaubt, ich wäre nur ein Gegenstand für dich, ein Objekt, das man in einem Hotel ablädt. André jedenfalls liebt mich. Er wartet auf mich."
"Na schön, sag ihm, er soll dich holen."
"Gut - ich werde ihn bitten."
Ich rief an. Ein paar Minuten später war André bei mir. Er hatte Freunde mitgebracht, die auch Tonio kannten. Wir redeten, wir tranken. Tonio empfing sie mit nacktem Oberkörper. Er wirkte sehr stark mit seinem dicht behaarten Brustkasten, und er lächelte über das ganze Gesicht. Er servierte den Gästen Pernod auf einem Silbertablett. Wir tranken, und ich bin für immer bei meinem Mann geblieben.
Wir sprachen nie wieder von dieser Geschichte.
zum AnfangJames Scott & Joanne Robertson:Solange ich atme, hoffe ich
Solange ich atme, hoffe ich
James Scott & Joanne Robertson
Dies ist der unglaubliche Bericht eines jungen australischen Arztes, der Ende Dezember 1991 auf einer Winterwanderung nördlich von Katmandu in Nepal überraschend eingeschneit wird. In unbewohntem Gebiet, unter einem Felsvorsprung, der ihm Schutz bietet, harrt der junge Mann aus, nachdem er vergeblich versuchte, durch den Tiefschnee weiterzukommen. Er ist eingeschlossen, denkt an seine Liebsten in Australien - besonders an seine Verlobte - und beginnt mit dem Schlimmsten zu rechnen.
(1)
Ich spürte, wie mein Leben mir langsam entglitt
„Bevor ich den Rucksack wieder verschloss, nahm ich die letzten vier Stücke Schokolade heraus. Das erste Mal, seit ich mich verirrt hatte, verspürte ich nagenden Hunger. Ich ass die Schokolade und versuchte mir das bisschen Wärme vorzustellen, das die Energiezufuhr mir geben würde. Viel zu schnell war das letzte Stück in meinem Mund dahingeschmolzen. Alles, was ich zu essen hatte, war aufgebraucht.
Ich lehnte mich an den Fels hinter mir und führte mir wieder vor Augen, was mich in diese Situation gebracht hatte. Das Ganze schien eine aussergewöhnliche Aneinanderreihung von Zufällen zu sein. Im Krankenhaus in Katmandu als Freiwilliger zu arbeiten, war nicht möglich gewesen; statt dessen konnten Tim und ich wandern gehen. Wir verliefen uns schon am ersten Tag - und begegneten jenem deutschen Pärchen, das uns dazu brachte, die Wanderung mit neuer Route fortzusetzen. Dann war ich Mark über den Weg gelaufen, und statt mit Tim nach Katmandu zurückzukehren, entschloss ich mich, mit Mark zur Passhöhe weiterzugehen, um das Dorf Gosainkund zu erreichen.
Als letzter Nagel in meinem Sarg erwies sich dann der dramatische Wetterumschwung. Selbst die Einheimischen hatten noch auf Tage hinaus keinen Schnee vorausgesagt. So fanden wir uns völlig unvorbereitet in einer Höhe von 4400 Metern wieder. Nach dem Verlassen der Schutzhütte trennte ich mich von Mark, weil ich ihn nicht überzeugen konnte, gemeinsam mit mir den Rückweg zu finden. Hätte es früher zu schneien begonnen, wäre ich gemeinsam mit dem nepalesischen Hüttenwart abgestiegen. Stattdessen befand ich mich nun, hilflos, mutterseelenallein, unter diesem Felsvorsprung – und konnte daraus nur schliessen, dass es mir bestimmt schien zu sterben.
Ich lag in meinen Schlafsack eingewickelt; dennoch spürte ich, wie ich zunehmend an Wärme verlor, wie mein Leben mir langsam entglitt. Während der Wind durch das steile Tal pfiff, sodass die Kälte noch tiefer in meinen Körper eindrang, bereitete ich mich auf den Tod vor.“
(2)
Die kleinen Vögel hatten mehr Recht als ich, hier zu sein
Zu seinem eigenen Erstaunen überlebt er die erste Nacht, die zweite, die dritte - und schöpft wieder Hoffnung. Er gibt sich 70 Tage - obwohl es rund um ihn nichts zu essen gibt und der Frühling und damit die Schneeschmelze weit entfernt sind.
Die einzigen Bücher, die er bei sich hat, sind der Psychothriller "Das Schweigen der Lämmer" und der Klassiker "Grosse Erwartungen" von Charles Dickens, wo der Held des Buches kurz vor dem Tod unerwartet gerettet wird...
"Ich fing wieder an Dickens zu lesen. Heute war ich optimistischer, was mein Überleben anging. Ich konnte mir nicht vorstellen, dass es noch kälter werden konnte als in den vergangenen Nächten. Der Kälteschmerz wurde zunehmend von Hunger abgelöst - krampfartig und übelkeitserregend. Ich musste all meine Kraft zusammennehmen, um nicht ständig ans Essen zu denken.
Bei dem Gedanken, dass ich nach Nepal gereist war, um einen Eindruck vom Leben in der Dritten Welt zu bekommen, musste ich lächeln. So langsam begann ich zu verstehen, was echter Hunger ist.
Zu meiner Freude tauchten einige kleine Vögel auf. Sie flatterten von Baum zu Baum und landeten gelegentlich auf dem Bambusgras ganz in meiner Nähe. Sie waren wunderhübsch. Bis jetzt war mir alles so tot erschienen, dass ich zu dem Schluss gekommen war, ich sei die einzige lebende Kreatur auf dem Berghang, das einzige Wesen hier, das mit der Kälte und dem Hunger fertigwerden musste. Die Gegenwart der winzigen Vögel bestärkte mich darin, dass ein Überleben in dieser unwirtlichen Umgebung möglich sein musste.
Ich hatte den Eindruck, mir würde auf diese Weise die Gelegenheit gegeben, endlich etwas Nahrung zu mir zu nehmen. Auch wenn der Gedanke an rohes Vogelfleisch mir nicht gerade das Wasser im Mund zusammenlaufen liess, bot sich hier doch eine immerhin erreichbare Eiweissquelle.
Ich rutschte aus meinem Schlafsack und sammelte ein paar Steine. Immer, wenn ein Vogel in meine Nähe kam, versuchte ich ihn zu treffen, aber ich warf ständig daneben. Oft flogen die Vögel schon auf, wenn ich nur den Arm hob.
Meine Schulter schmerzte. Dies war die erste aktive Bewegung meiner oberen Gliedmassen seit über einer Woche, und die Anstrengung verursachte Schmerzen. Doch dies war nicht der Hauptgrund, warum ich aufhörte, auf die Vögel zu zielen. Während ich zusah, wie sie sich so niedlich bewegten, hatte ich das Gefühl, dass die Vögel mehr Recht als ich hatten, hier zu sein. Ich war der Eindringling in ihrer Umgebung.
Die kleinen Tiere hatten mir Freude bereitet, und nun versuchte ich sie zu töten. Das schien mir unrecht. Ich lutschte ein wenig Schnee und freute mich an dem Schauspiel der Vögel. Ich würde sie in Ruhe lassen, beschloss ich. Schon nach kurzer Zeit trieb mich die Kälte wieder in meinen Schlafsack.
Stunden vergingen, während ich las, immer ein Ohr zum Himmel gerichtet, um allenfalls das Geräusch eines herannahenden Hubschraubers zu hören. Da bemerkte ich, dass direktes Sonnenlicht auf meinen Lagerplatz fiel. Ich setzte mich in die Sonne - das erste Mal seit vielen Tagen. So wie ich sass, konnte ich direkt in den gelben Feuerball sehen.
Das Sonnenlicht munterte mich auf. Ich sammelte die gefrorenen Kleidungsstücke zusammen und legte sie flach in die Sonne."
(3)
Der Kugelschreiber war leer. Ich warf ihn zurück in den Schmutz
Wochen sind schon vergangen - noch immer harrt der junge Australier unter seinem Felsvorsprung aus. Einmal flog ein Helikopter hoch über ihm durch das Tal. Danach war alles so still wie davor. James Scott ist überzeugt, dass man die Suche nach ihm abgebrochen hat. Auch er selbst spürt, wie seine Kräfte schwinden.
Ich muss es einfach schaffen, versuchte ich mir immer wieder zu sagen. Doch als ich zusah, wie der Schnee schon seit zwei Tagen dichter denn je fiel, begann ich zu zweifeln, ob er bis zum siebzigsten Tag – Anfang März – überhaupt schon geschmolzen sein würde.
Die Chancen, aus eigener Kraft dieser hoffnungslosen Situation zu entkommen, standen so schlecht, dass ich mich fragte, ob es sich lohnte, weiter ums Überleben zu kämpfen. Ich hatte vermocht, der Kälte zu widerstehen, aber ohne vernünftige Nahrung wusste ich, dass der Hunger mich schliesslich umbringen würde.
An diesem Tag waren die negativen Gedanken besonders stark. Mein kaputter Kugelschreiber lag seit mindestens zwei Wochen unberührt im Schmutz. Ich verspürte ein verzweifeltes Bedürfnis, die Menschen zuhause zu erreichen. Natürlich gab es keine Garantie, dass sie meine Briefe je erhalten würden, aber ich wollte zumindest noch einmal etwas aufschreiben.
Also blies ich den Schmutz von meinem Stift und kritzelte ergebnislos auf dem Papier herum. Der Stift funktionierte auch jetzt nicht. Im Tintenbehälter war immer noch Farbe, aber sie floss nicht auf die Kugel. Ich stellte fest, dass er verstopft war. Darauf schnitt ich den Plastikschaft in der Mitte auf und schnippte den verstopften Teil mit meiner Schere ab. Ich musste ein paarmal schnell schütteln, um die Tinte nach unten zu befördern – und die Farbe floss wieder reichlich.
Wenigstens das hatte geklappt. Dann zog ich meinen Block Papier aus dem Rucksack und schrieb weiter an meinen Briefen, erst an meine Familie:
Ihr Lieben alle, ich habe den Überblick verloren über das Datum, die Zeit. Ihr werdet überrascht sein, zu lesen, dass ich immerhin glaube, meinen 23igsten Geburtstag überlebt zu haben. Seit ungefähr einem Monat bin ich verschollen. Ich war in dieser ganzen Zeit weniger deprimiert, als man erwarten würde. Frustration ist das bessere Wort, um die Empfindungen zu umschreiben, die mich überkommen...
Ich erzählte, wie ich hierher gelangt war. Ich berichtete von den ersten kalten Nächten, davon, wie die Sonne meine Kleider trocknete, und von meinem vergeblichen Versuch, die gegenüberliegende Anhöhe zu erreichen. Ich erwähnte sogar, dass ich darauf vorbereitet sei, einem Hubschrauber ein Signal zu geben – falls einer kommen würde. Weiter beschrieb ich, wie ich probiert hatte, alle verfügbaren Pflanzen zu essen. Aber nichts hatte sich als essbar erwiesen. Meine Familie sollte wissen, dass ich alles versucht hatte, was in meiner Macht stand, um zu überleben.
An meine Verlobte schrieb ich:
Ich denke viel an dich und träume von dir. Ich denke an die Verlobungsfeier, die jetzt eigentlich stattfinden sollte, an unsere Hochzeit und an die Kinder, die wir grossziehen wollten. Trotz allem hoffe ich insgeheim immer noch, dass ich vielleicht gerettet werde und all diese Dinge...
Ich wollte schreiben ...Wirklichkeit werden können, aber die Tinte hörte erneut auf zu fliessen. Der Kugelschreiber war leer. Es war keine Farbe mehr zu sehen, nur noch der Abdruck der Worte:
Mein Kugelschreiber ist leer. Ich liebe dich! Ich liebe dich für immer!
Dies waren die allerletzten Sätze, die der Stift von sich gegeben hatte. Ich warf ihn zurück in den Schmutz."
(4)
Ich würde es fühlen, wenn James nicht mehr lebte
James denkt, man habe ihn aufgegeben. Er ahnt nicht, wie fieberhaft weiter nach ihm gesucht wird. Seine Schwester Joanne ist nach Nepal gekommen und koordiniert die Suchaktion. Aber auch sie beginnt zu zweifeln.
"Ich war sehr erschöpft. James wurde nun seit genau 5 Wochen und einem Tag vermisst. Immer wieder sagte man mir, er könne auf keinen Fall so lange überlebt haben; und auch ich wusste inzwischen, dass wir - logisch betrachtet - nach einem Leichnam suchten.
Doch ein anderer Teil von mir akzeptierte nicht, dass James tot sein sollte. Ich telefonierte mit Gaye, seiner Verlobten, und sie sagte mir, sie habe nicht das Gefühl, dass James gestorben sei. Ich wusste, was sie meinte. Auch etwas in meinem Innern war überzeugt, dass ich es fühlen würde, wenn James nicht mehr lebte. Ich konnte nicht endlos in Nepal bleiben, aber ich war noch nicht bereit, abzureisen.
Am Dienstagmorgen setzten wir uns gerade zum Frühstück, als Carl anrief. Die Suchtrupps waren zurückgekehrt. Um halb zwölf verabredete ich mich mit den Männern in der australischen Botschaft.
Sie hatten den Pfad zwischen Phedi und Talu abgesucht und wieder nichts gefunden. Carl beschrieb mir den hüfttiefen Schnee, unter dem riesige Löcher verborgen lagen. Meist hatte er die Gruppe geführt und die Schneetiefe vor sich mit einer Schaufel geprüft. An einem Punkt war die Schaufel in einem besonders tiefen Spalt glatt verschwunden. Ingo sagte, es liege soviel Schnee, dass die beiden Suchtrupps sich fast verlaufen hätten. Lediglich den Fähigkeiten der Hunde im Spurensuchen sei es zu verdanken gewesen, dass seine Gruppe den Pfad wiedergefunden habe.
Nun blieb nur noch eine Gegend zwischen Phedi und Talu übrig, die noch nicht abgesucht worden war.
"Es ist ein gewaltiges Tal", erklärte mir Carl, "sehr gefährlich, stark vereist, mit Felsbrocken von der Grösse dieses Zimmers." Carl meinte, es sei unmöglich das Tal vor dem Sommer zu Fuss abzusuchen.
Die einzige Alternative bestand darin, einen Hubschrauber loszuschicken, der das Tal erneut und diesmal gründlich absuchen würde. Schliesslich hatte ich das Wort des Premierministers, dass sie alles tun würden, was in ihrer Macht stand, um zu helfen. Aber eine realistische Hoffnung, James lebend zu finden, konnte ich nicht daran knüpfen.
Ich kehrte zurück in die Wohnung . Tom (ein Australier, der mit seiner Frau in Kathmandu lebt und Joanne bei sich aufgenommen hat) schlug vor, jemand solle eine Videokamera mit in den Hubschrauber nehmen, um mir eine Vorstellung von dem Gelände zu geben.
"Ich glaube, wir müssen akzeptieren, dass James nicht mehr auf der Welt ist", sagte ich leise zu Tom.
"Weisst du, Joanne", entgegnete er, "wenn James gestorben ist, hätte er sich keinen schöneren Ort auf der ganzen Welt aussuchen können. Dort oben, am Fusse des Himalaya, ist es wie nirgendwo sonst. Aber... ich habe so ein Gefühl. Ich glaube, er ist noch am Leben. Ich glaube es wirklich."
(5)
Er lebt. Ich wiederhole: Er lebt.
Am 41. Tag gibt der junge Mann auf. Er nimmt kein Wasser mehr zu sich und beschliesst, zu sterben. Doch ein Traum in der Nacht erfüllt ihn noch einmal mit Lebensmut, und als er am Morgen erwacht, schämt er sich vor sich selbst, dass er aufgeben wollte.
Es beginnt der 42. Tag. Die Suche wird forgeführt. Ein nepalesischer Militärhelikopter überfliegt erneut ein Gebiet, das zu Fuss nicht erreicht werden kann, und die Schwester von James, Joanne, begibt sich zum Flugplatz.
"Irgend etwas Neues von Colonel Pun?" fragte ich.
"Nein, nichts", antwortete der Funker.
Ich setzte mich kurz neben das Funkgerät, dann stand ich auf und trat auf die Veranda. Zwei Affen spielten in einem Baum. Ein paar Soldaten gingen im Hof auf und ab. In der Ferne hörte man das Brummen von Flugzeugen auf der Landebahn.
"Basis, hier Army-two-nine, bitte melden."
Ich rannte nach drinnen, mein Herz hämmerte gegen meine Rippen. Obwohl ich inzwischen schon oft morgens auf der Helikopterbasis gewesen war, fühlte ich noch immer ein inneres Beben, sobald eine Nachricht kam.
Der Funker antwortete ruhig: "Army two-nine, hier Bodenkontrolle. Bitte melden."
Colonel Pun sprach nepalesisch. Der Funker reichte mir das Mikrofon.
"Colonel Pun, hier ist Joanne. Ich höre." In meinem Kopf herrschte Aufruhr.
"Joanne, wir haben oberhalb von Talu einen Menschen gesehen. Er lebt. Ich wiederhole, wir haben oberhalb von Talu einen Menschen gesehen. Over."
Ich war fassungslos. Hatte mir meine Wahrnehmung gerade einen Streich gespielt? Hatte ich mir so lange gewünscht, etwas Derartiges zu hören, dass ich mir das, was der Colonel eben gemeldet hatte, bloss einbildete? - Aber er hatte wirklich gesagt: Er lebt. Wie konnte James noch am Leben sein? Heute waren es 42 Tage. Ohne Essen... Ich spürte, wie die Tränen über meine Wangen rollten.
"Wie kann das sein? Wo ist er? Was werden wir tun?" Mir wurde klar, dass ich unzusammen-hängend ins Mikrofon redete.
"Joanne, hier ist Colonel Pun. Ich wiederhole, wir haben oberhalb von Talu jemanden gesehen. Er befindet sich an einem ganz unzugänglichen Ort. Er ist aus einer Art Höhle ins Freie gekommen und hat mit einem blauen Schlafsack gewinkt. Dabei ist er zusammengebrochen. Wir sind jetzt auf dem Weg zurück nach Katmandu. Wir glauben, es könnte ihr Bruder sein."
(6)
Dies waren die ersten Menschen, die ich seit sechs Wochen sah
Nachdem der Suchhelikopter ihn entdeckt hat, schöpft James Scott neuen Mut. Kaum in der Lage, noch aufzustehen, wartet er auf seine Retter. Ein weiterer langer Tag verstreicht. Es wird Abend, und die Dämmerung bricht herein.
Da hörte ich in der Ferne eine sanfte Stimme, ein unterdrücktes Rufen, und ich musste mich bemühen, es zu hören. Ich war mir nicht sicher, ob ich halluzinierte.
"Namaste", rief die Stimme, noch immer weit entfernt. Namaste bedeutet Hallo. Dann folgte ein schrilles Pfeifen. Ich wartete, ob ich es noch einmal hören würde, bevor ich antwortete. Das alles war zuviel auf einmal. Ich zog meinen Kopf aus dem Schlafsack und kreischte: "Namaste! Namaste!"
Meine Stimme brach. Es war seltsam, sie nach so langer Zeit wieder zu benutzen.
Und die Stimmen antworteten. Ich griff nach meinem nepalesischen Sprachführer und suchte nach der Übersetzung von: "Ich bin krank" und "Ich kann nicht laufen". Beides rief ich laut auf nepalesisch. Als Antwort erklang wieder: "Namaste!"
"Bitte kommt her", rief ich. Dann begann ich, auf meinen Fingern zu pfeifen. Das ganze Tal gab das Echo wieder.
Es wurde zu kalt - ich konnte den Kopf nicht länger im Freien lassen. Doch ich fuhr fort zu pfeifen, und gelegentlich rief ich laut.
Währenddessen kamen die Stimmen näher und näher. Und dann - es schien kaum Zeit vergangen -sah ich über den Rand meines Felsvorsprungs zwei nepalesische Gesichter auftauchen. Es waren zwei Männer, und als sie vor mir standen, konnten sie ihre Aufregung kaum unterdrücken. Sie begrüssten mich auf nepalesische Art, die Hände in Gebetstellung, mit einem Neigen des Kopfes.
"Namaste" gab ich ihre Geste schwach zurück. Dies waren die ersten Menschen, die ich seit sechs Wochen sah. Ich konnte es einfach nicht glauben.
Einer der Nepalesen fragte mich, sehr zu meinem Erstaunen, ob ich James Scott aus Australien sei. Ich fand es unvorstellbar, dass man so lange nach mir gesucht hatte.
"Ja, das bin ich", erwiderte ich.
Als die beiden das hörten, traten ihnen Tränen in die Augen. Sie umarmten und küssten mich ohne Rücksicht auf mein verwildertes Äusseres. Sie schienen einfach überwältigt zu sein, dass sie mich gefunden hatten. Ich kämpfte meine eigenen Tränen zurück und stellte eine Frage nach der andern. Die Männer antworteten in einer unverständlichen Mischung aus Nepalesisch und Englisch - irgendetwas über meine Schwester in Kathmandu sagten sie, die nach mir gesucht habe. Gleichzeitig staunten sie mich unentwegt an und strichen mir ehrfürchtig über das Haar und übers Gesicht.
Es gelang ihnen, mir verständlich zu machen, dass noch nie jemand länger als zehn Tage hier oben überlebt habe. Immer wieder berührten sie mich, als wollten sie sich überzeugen, dass ich wirklich war. Erst da wurde mir bewusst, wie alt und abgetragen ihre Kleider waren. Einer der Männer ging tatsächlich barfuss. Ihre Kühnheit war erstaunlich. Sie hatten ihr Leben aufs Spiel gesetzt, damit ich nicht noch eine Nacht allein verbringen musste.
Der Rest des Suchtrupps kam im Dunkeln den Berg hinauf und stiess unter dem Felsüberhang zu uns. Ein ruhiger, selbstsicherer Mann stellte sich als Carl Harrison vor. Er fragte noch einmal, ob ich James Scott aus Australien sei, und sagte, er habe sehr lange nach mir gesucht.
Ich war gerade noch in der Lage, zu antworten: "Ich bin sehr froh, Sie zu sehen" - bevor ich weinte, wie ich es nie mehr getan hatte, seit ich ein Kind war. Die Isoliertheit, die ich in den sechs Wochen erlebt hatte, wurde buchstäblich weggeschwemmt. Die Tränenströme, die ich in jenen ersten Minuten weinte, waren wie ein Ventil für all die negativen Gefühle, die ich so lange unterdrückt hatte, um nicht zu verzweifeln. Jetzt wusste ich, dass ich gerettet war.
Schluss
Aus dem Buch von James Scott & Joanne Robertson
„Solange ich atme, hoffe ich“
Verschollen im Himalaya.
Eine Geschichte vom Überleben
Sousan Azadi: Flucht aus dem Iran
Sousan Azadi
Flucht aus dem Iran
Die dramatische Lebensgeschichte der Iranerin Sousan Azadi, die sich und ihren Sohn vor den Schergen des Ayatollah rettete.
Sousan, du bist die Tochter des Khans.
(1)
Vor bald 20 Jahren erschien ein Buch, das heute fast noch aktueller ist als bei seinem Erscheinen. Die Geschichte der Sousan Azadi hilft mir begreifen, was im Iran geschieht und geschehen ist, seitdem 1979 die Islamisten unter Ayatollah Khomeini den Schah von Persien stürzten und die Macht übernahmen.
Sousan Azadis Vater war ein Khan. Er entstammte dem persischen Landadel mit direkten verwandtschaftlichen Beziehungen zu den persischen Herrscherfamilien. Er verfügte über grosse Ländereien und gehörte zur Elite des Landes. In diese feudalen Verhältnisse hinein wurde Sousan geboren.
„Ich kam am 17. September 1954 in Teheran auf die Welt. Meine Geburt blieb vor allem deshalb nachhaltig in Erinnerung, weil der Arzt meiner Mutter nicht aufzutreiben war, als die Wehen einsetzten. Ihre Brüder entdeckten ihn schliesslich beim Pokerspiel. Er war betrunken und wütend, weil er hohe Summen verloren hatte. Sie mussten all seine Schulden bezahlen, bevor sie ihn bewegen konnten, mitzukommen.
Als ich noch sehr klein war, lebte meine Mutter mit meinem Vater in unserem Landhaus, doch für die Schule fanden sie, dass es besser wäre, wenn meine Mutter mit mir in Teheran wohnen würde. Ich konnte dort eine von italienischen Nonnen geführte Privatschule besuchen und meine Mutter konnte, umgeben von ihrer Familie, ein gesellschaftlich aktives Leben führen.
Meine Kindheit war unterteilt in die Ordnung der Schultage im Winter in Teheran und die Freiheit und Freuden des Sommers in Sabbalon, einem der Dörfer, die meinem Vater gehörten. Wenn ich an die Jahre in Sabbalon zurückdenke, sehe ich auch jetzt noch seine Schönheit vor mir, und ich kann den Jasminduft in der leichten Brise riechen. Es lag auf einem Hügel mit Blick über dem Rezayeh-See, die roten Lehmziegelhäuser lagen in einem Gartenlabyrinth versteckt.
Auf der Spitze des Hügels hatte mein Vater ein Haus gebaut. Er persönlich hatte es entworfen – ein Haus mit 18 Zimmern und einem grossen, kaskadenartig abfallenden Garten. Eine unterirdische Quelle drang ganz oben im Garten aus dem Boden und füllte einen riesigen Swimmingpool; das Wasser floss dann in zwei Bächen durch den Garten nach unten und füllte die Luft mit Feuchtigkeit und sanften, gurgelnden Lauten.
Zusätzlich baute Vater noch einige verstreut liegende Pavillons, so dass er jeden Morgen in einem anderen Teil des Gartens frühstücken konnte, umgeben von Tulpen und Azaleen; alles war so angeordnet, dass der Garten die ganze Saison hindurch blühte.
Neben der Leidenschaft, die er für meine Mutter und für die Poesie empfand, liebte mein Vater auch seine Rosen. Er entwickelte eigene Züchtungen und machte so seinen Garten zu einem der farbigsten und prächtigsten weitherum.
Ich liebte mein Leben in Sabbalon. Nach den gesellschaftlichen Zwängen in Teheran, wo ich mich schon früh wie eine wohlerzogene junge Dame benehmen musste, konnte ich im Dorf meine Zeit mit Kameraden verbringen, die meine Eltern in der Stadt nicht als Spielgefährten gebilligt hätten. Während der langen Sommertage tobte ich mit den Dorfkindern herum, stahl Obst von den Bäumen (die meinem Vater gehörten) und wurde dafür von den alten Männern, die die Bäume bewachten, gescholten - bis sie erkannten, wer ich war.
Gelegentlich ging ich auch mit der zögernden Billigung meiner Mutter zum Mittagessen in das Haus eines der Dorfbewohner. Doch keiner vergass je, dass ich die Tochter des Khans war. Wenn sie mir auf der Strasse begegneten, tippten die Männer an ihre Hüte, und die alten Frauen bückten sich tief, um mir die Hand zu küssen.
„Mama, warum tun sie das? Ich mag das nicht.“
„Sousan, du bist die Tochter des Khans. Sie zeigen ihren Respekt vor dir.“
Dinge, von denen uns unsere Eltern nie etwas sagten.
(2)
1966, als Sechzehnjährige wird Sousan – wie viele junge Iraner der Oberschicht damals – zu Verwandten in die USA geschickt, um ihr dort standesgemäss westliche Bildung und Kultur zu vermitteln.
Das erste, was mir an Amerika auffiel, waren die fehlenden Mauern um die Häuser herum. Wenn man wollte, konnte man einem Nachbarn direkt ins Wohnzimmer sehen. Die Leute empfanden keine Notwendigkeit, ihre Besitztümer oder ihre Frauen zu verstecken, wie es die Perser nach Jahrhunderten des Erobern und Erobertwerdens taten.
Wir hatten im Iran gewisse Vorstellungen, wie Amerika sein könnte – und so war es. Zwei meiner Onkel lebten in Ann Arbor, der dritte in Los Angeles. Sie alle hatten sich einen auf Hochglanz polierten Teil des amerikanischen Traums gesichert. Onkel Amir, bei dem ich wohnte, war ein Zahnarzt, der mit Aktien und Immobilien ein Vermögen erworben hatte. Er besass eine Luxusvilla oben auf einem Hügel. Jedes Fleckchen Fussboden war mit den kostbarsten persischen Teppichen bedeckt, die nach Mass im Iran hergestellt und dann verschifft worden waren. Amerikanische Diener hielten unter der strengen Aufsicht meiner Tante Soraya alles sauber. Ihre amerikanischen Freunde nannten die Villa meines Onkels „das persische Schloss“.
„Du bist hier bei uns, um eine gute Ausbildung zu erhalten“, sagte mein Onkel nach meiner Ankunft. „Und wir werden dafür sorgen. Wir fangen damit an, dass wir nur noch englisch mit dir sprechen.“
Sousan besucht zuerst eine Highschool. Sie schwankt zwischen Faszination für das moderne amerikanische Leben und dem Heimweh nach Persien. Mit 18 darf sie an ein privates Kunst-College in Los Angeles gehen, um Design zu studieren.
„Ich liebte Los Angeles. Das warme Klima erinnerte mich an zu Hause, und inzwischen war ich alt genug, um die Freiluftparties zu geniessen, die fröhlichen Gesellschaften am Swimmingpool und das Nonstop-Nachtleben. Ich hatte bald eine Menge Freunde, vor allem unter den zahlreichen iranischen Studenten in der Stadt.
Die revolutionären Aussteiger, die sich mit Studentenpolitik beschäftigten, waren mir fremd. Ich hatte nichts gemein mit jungen Leuten, die barfuss herumspazierten und die Haare zu Zöpfen geflochten hatten. Ich interessierte mich auch nicht für Drogen. Ich war immer noch mehr Iranerin als Amerikanerin, und meine Interessen waren die eine wohlerzogenen Debütantin: Mode, Sport und junge Männer.
Eines Tages sagte eine Freundin zu mir: „Hör mal Sousan, du musst mit mir zu einer Vorlesung an der University of California kommen. Ein Professor spricht dort ganz grossartig über den Iran. Er erzählt uns Dinge, von denen uns unsere Eltern nie etwas sagten.“
Ich warne dich, Sousan. Ich will dich haben.
(3)
"Zu der Zeit war ich bereit, alles Neue auszuprobieren, überall Besuche zu machen und mit jedermann zu reden. Ich konnte nun meiner jahrelang streng gezügelten Neugierde freien Lauf lassen. Warum sollte ich nicht an diese Vorlesung gehen? Ausserdem mochte ich die iranischen Studenten, die ich an der Uni kennengelernt hatte. Nicht alle stammten von reichen Eltern. Unter dem Schah waren Mittel bereitgestellt worden, die es auch ihnen ermöglichten, im Ausland ein Studium zu absolvieren. In ihrer lockeren, freundlichen Gesellschaft fand ich ein bisschen von der Wärme wieder, die mir in meinem amerikanischen Leben fehlte.
Der Professor, der die Vorlesung hielt, hatte den Iran erst kürzlich besucht. Er sprach über das bäuerliche Feudalsystem und über die grossen, privaten Landbesitzer, wie mein Vater einer war, die trotz der Reformen des Schah immer noch einen Grossteil des Landes kontrollierten und in ihren Dörfern wie mittelalterliche Herrscher regierten.
Dann erklärte er uns, dass 70 % des iranischen Volkes nach wie vor weder lesen noch schreiben konnten, dass die meisten in unwürdigen hygienischen Verhältnissen lebten und dass der Iran von zweihundert mächtigen Familien regiert würde, die es auf die eine oder andere Weise geschafft hatten, den gesamten Reichtum der Nation an sich zu reissen. Beide Seiten meiner Familie konnte man zu diesen 200 Familien zählen.
Es war das erstemal, dass ich kritische Bemerkungen über mein Land hörte. Der Professor zeigte Dias von armen Iranern - ihre Bauernkleidung dreckig und zerrissen -, wie sie sich in ihren Lehmziegelhäusern drängten. Die Bilder schockierten mich. Im Vergleich dazu ging es den Bewohnern des Dorfes, das meinem Vater gehörte, zwar sehr viel besser. Doch allein schon meine Unwissenheit bewies, wie fern ich ihrem Leben war.
Nach der Vorlesung unterhielten sich die Studenten in der Cafeteria über den Schah. "Er ist korrupt und bestiehlt sein eigenes Volk. Er unterdrückt die Pressefreiheit", sagte einer der jungen Iraner.
Für mich war unbegreiflich, dass ein Student, dessen Stipendium vom Schah bezahlt wurde, sich so bitter über ihn äusserte. Bis dahin hatte ich gelernt - wie alle anderen braven Studenten auch -, im gleichen ehrfürchtigen Ton vom Schah zu sprechen wie von Gott oder vom Vaterland. Diese drei Dinge bildeten für mich ein unzerstörbares Dreieck der Autorität.
Und auch jetzt, wo meine Augen und mein Herz sich für die Wirklichkeit meines Landes öffneten, war ich nicht bereit, mein Recht, reich zu sein und Diener zu haben, in Frage zu stellen. Aber das war es genau, was die radikaleren Studenten von mir verlangten.
Ich besuchte nur wenige dieser Vorlesungen; trotzdem wusste meine Familie bald schon Bescheid, dass ich mich mit radikalen iranischen Studenten eingelassen hatte. Die Art und Weise, wie sie es erfuhren, sagt sehr viel aus über die iranische Gesellschaft - und die iranischen Männer.
Kurz nach meiner Ankunft in Los Angeles hatte ich einen engen Freund meiner Familie, einen 30jährigen verheirateten Mann getroffen. Ich merkte schon bald, dass er sich bemühte, viel Zeit in meiner Nähe zu verbringen, vor allem, wenn ich im Haus meines Onkels allein war.
Eines Tages, als der Iraner mich wieder besuchte, besass er die Kühnheit zu sagen:
"Sousan, ich liebe dich und will dich besitzen."
Schockiert starrte ich ihn an. "Aber du bist für mich wie ein Bruder. Und was ist mit deiner Frau?"
"Sie ist mir egal. Ich werde mich scheiden lassen. Ich möchte dich heiraten."
Ich konnte ihn kaum davon abhalten, mich zu küssen. Bevor er ging, sagte er, ich solle über seinen Antrag nachdenken, er würde wiederkommen. Ich war zu verängstigt, meinem Onkel etwas zu sagen, und hoffte, der Mann vergesse mich. Aber er gab nicht auf - während Monaten nicht. Und als er schliesslich erkennen musste, dass ich nicht wollte, sagte er eines Tages:
"Ich warne dich, Sousan. Ich will dich haben. Wenn ich dich nicht bekomme, dann erzähle ich deinem Onkel einige Dinge, die ihn veranlassen werden, dich von hier wegzubringen."
Such' dir einen anständigen Ring aus, Sousan.
(4)
Sousan will von dem Mann nichts wissen. Darauf erzählt er ihrer Familie von ihrem politischen Interesse - worauf die junge Studentin nach Hause geholt wird.
Zurück im Iran - wo noch immer der Schah regiert - hält der Sohn einer reichen iranischen Familie um Sousans Hand an. Diesmal willigt sie ein - ohne sich bewusst zu sein, wie konservativ und islamtreu die Familie ihres Bräutigams ist.
"Im Iran ist eine Verlobung eine äusserst formelle Angelegenheit, und so erschien eines Tages Bijans gesamte Familie im Hauses meiner Tante Ashraf, um das Eheangebot zu unterbreiten. Bevor Bijan selbst erschien, hatte er mit seinem Chauffeur einen riesigen Korb Orchideen geschickt. Von meiner Familie waren mein Vater anwesend, mein Onkel Kurosh mit seiner Familie und mein lieber Onkel Fayegh, bei dem ich nach dem Tod meiner Mutter als Kind gelebt hatte.
Nach einem halbstündigen allgemeinen Geplauder sagte Bijan zu meinem Vater: "Wir sind gekommen, weil ich Sie um Erlaubnis bitten möchte, Sousan heiraten zu dürfen."
Mein Vater erwiderte: "Wir sind mit der Ehe einverstanden. Meine einzige Sorge ist, dass Sousan noch sehr jung ist. Ich möchte gerne sicher sein, dass sie ihre Studien fortsetzen kann."
"Selbstverständlich", sagte Bijan, "das möchte ich ebenfalls."
Nachdem alle einen Toast auf uns ausgebracht hatten, schenkte mir Bijan einen Goldring, und ich war nun ganz offiziell verlobt. Ich konnte noch immer kaum glauben, was für eine Wandlung ich in so kurzer Zeit durchgemacht hatte: von einem Teenager in den USA, der von Verabredungen mit Jungs träumte - zur Verlobten eines gutaussehenden iranischen Geschäftsmannes mit einem grossen Vermögen und einer Familie im Hintergrund, die zu den reichsten von Teheran gehörte.
Was für eine Wirkung dieses schlichte Versprechen hatte! Von Verwandten und Freunden, von denen ich seit meiner Rückkehr in den Iran nichts mehr gehört hatte, bekam ich Einladungen zum Tee, zum Dinner und zu irgendwelchen Ausflügen. Es hatte der Billigung eines Mannes in einer von Männern kontrollierten Welt bedurft, um mir meine Würde zurückzugeben.
Wir heirateten am 12. März 1974. Die Zeremonie fand in dem grossen Haus des Familienpatriarchen Onkel Kamel statt, in einem Meer von Blumen, Früchten und Gebäck. Dem Brauch entsprechend bezahlte Bijan die Hochzeitskosten, das Brautkleid von Dior für 5'000 Dollar eingeschlossen.
Zusammen mit meiner Tante kümmerte er sich um jedes Detail: Eine Armee von Kellnern, Fahrern, Floristen, Bäckern und Küchenchefs unter dem Kommando eines Proviantmeisters war ihnen behilflich. Ich selber hatte nichts weiter zu tun, als in Begleitung von Bijan zu den Kleiderproben zu gehen und mir einen Ehering auszusuchen.
In dieser Angelegenheit demonstrierte meine Tante Tootie ihr überlegenes Wissen, wie man im Iran an diese Dinge heranging. Sie begleitete mich, als es um die Wahl des Ringes ging, und riet mir zuvor:
"Entscheide dich nicht für den teuersten Ring. Es könnte peinlich werden für dich, wenn dein Bräutigam sich entschliesst, nicht soviel auszugeben. Suche dir stattdessen einen der billigsten Ringe aus. Das gibt ihm die Möglichkeit, dir einen schöneren Ring zu kaufen."
Also wählte ich einen Diamanten, der mir überhaupt nicht gefiel. Als Bijan hinzutrat, warf er den Ring auf den Verkaufstisch der Bijouterie und sagte:
"Such dir einen anständigen Ring aus, Sousan. Was soll dieses Ding?"
Warum willst du eine Disco besuchen?
(5)
Die erste Zeit ist Sousan glücklich mit ihrem Mann und geniesst ihr verschwenderisches und sorgloses Leben. Doch dann, gegen Ende der 70er-Jahre, wird alles anders.
"Im Iran hatte es stets Reiche und Arme gegeben, doch waren wir alle durch eine lange Geschichte miteinander verbunden gewesen. Einer respektierte den Platz des andern in der Gesellschaft. Wir verstanden einander, akzeptierten die Hierarchie und die Gesetze des Königs.
Jetzt aber sah die Elite ganz anders aus – und sprach auch eine andere Sprache. Wir, die Reichen, hatten mehr Geld als je zuvor, doch in den Augen der meisten Iraner waren wir nichts weiter als Imitatoren des Westens. Wir besuchten nur dann eine Moschee, wenn ein Familienangehöriger gestorben war und prahlten mit unserer sexuellen Freiheit. Für viele waren wir gar keine richtigen Iraner. Die Abneigung im Volk gegen alle ausländischen Dinge wuchs. Und diese Abneigung war sogar bei Iranern vorhanden, die selber am meisten den Westen kopierten.
Ich hatte einen Mann geheiratet, der mich gerne tanzen sah und versprochen hatte, mich in die besten Clubs auszuführen. Doch allählich erkannte ich, dass seine Freiheitsbekundungen nur leere Versprechungen waren. Diese Erkenntnis dämmerte mir nur langsam. Anfangs hatte ich nichts dagegen, Gast in meinem eigenen Haus zu sein: Nie musste ich irgendeine Arbeit erledigen, sondern konnte alles der Dienerschaft überlassen. Und es störte mich auch nicht, dass Bijan, mein Mann, den ganzen Tag bei mir war und mir bei der Auswahl all der schönen Dinge half, die ich vielleicht benötigen konnte. Er begleitete mich auch zum Arzt oder schickte eine seiner Schwestern mit, wenn er verhindert war.
Er kümmerte sich um alles – bezahlte die Diener, verhandelte mit den Gärtnern, liess Reparaturen durchführen. Er begleitete mich sogar in den Supermarkt, denn er traute mir nicht einmal zu, Früchte zu kaufen. „Du erkennst nicht, wann die Frucht reif ist. Die Verkäufer würden dich nur betrügen.“ Ich besass keine Kreditkarten, keine Bankkonten. Und ausserhalb des Hauses war ich nie allein, weil mich stets ein Fahrer begleitete.
„Ich weiss, dass du deinen Führerschein in den USA gemacht hast. Aber der Teheraner Verkehr ist etwas anderes“, erklärte er mir, als ich den Wunsch äusserte, selber zu fahren.
Er weigerte sich auch plötzlich, mit mir in eine Disco oder zu einem Tanzvergnügen gehen. Er sagte: „Warum willst du, eine verheiratete Frau, eine Disco besuchen? Nur Frauen, die auf Männerbekanntschaften aus sind, gehen in Discos.“
Dijan versuchte mich im Haus zu halten. Wann immer mich seine Schwestern zum Schneider oder zum Arzt begleiteten – es geschah nicht aus Freundlichkeit. Sie fungierten als Aufpasser. Und wer war als Spion besser geeignet als der Chauffeur, der mich überall hinbrachte?
Vor allem missbilligte Bijan, wenn ich ohne seine Begleitung in den „Royal Club“ ging. Die lockere Atmosphäre im Club passte ihm nicht. Bijan war offensichtlich der Meinung, dass es für eine verheiratete Frau schon Sünde war, wenn sie sich mit einem Mann unterhielt. Ich konnte nicht glauben, dass dies der vermeintlich moderne Mann war, den ich geheiratet hatte.
Er hatte eine Frau mit einem westlichen Anstrich gewollt. Meine amerikanische Erziehung hatte ihn fasziniert. Doch tief in seinem Innern war er – wie die meisten Iraner – ein Traditionalist. Schliesslich sagte ich zu ihm:
„Wenn du dir eine traditionelle iranische Ehefrau gewünscht hast, dann hättest du nicht jemanden heiraten dürfen, der wie ich in den USA war. Du hättest ein hübsches kleines iranisches Mädchen heiraten sollen, das gern zu Hause sitzt und Marmelade macht.“
Eine Teufelsanbeterin
(7)
Sousans Mann stirbt überraschend, nach kurzer Krankheit, und seine konservative Familie erreicht, dass Sousan alle ihre finanziellen Ansprüche als Witwe verliert. Nur ihr Sohn darf bei ihr bleiben. Wenig später wird der Schah von Persien gestürzt und muss ausser Landes flüchten. Khomeini, der die islamische Revolution aus dem Exil entfachte, kehrt triumphal zurück. Die Mullahs übernehmen die Macht - und Sousan wird zur Verfolgten.
Die Taghouti. Die Teufelsanbeter. So brandmarkte Khomeini all jene, die die Revolution nicht unterstützt, die der königlichen Familie nahegestanden oder grosse Unternehmen geleitet hatten, sowie jene Personen, die westliche Kleidung trugen, vielleicht Schulen im Ausland besucht hatten, jene, die einfach reich waren oder in den höhergelegenene Quartieren Teherans wohnten, jene, die Kinos besuchten oder immer noch Alkohol in ihren Häusern horteten – also uns alle, die wir nicht der Linie des Iman folgten. In seinen Ansprachen forderte er seine Getreuen auf, uns aufzuspüren. Er peitschte gegen uns derartige Hassgefühle auf, dass es nur schon gefährlich wurde, unterwegs zu sein. Man konnte uns allein an unserer Kleidung oder an unseren Autos als Taghouti erkennen.
Allmählich kristallisierte sich heraus, was für eine Gesellschaft der Ayatollah für uns plante. Bei den vielen Intellektuellen, die sich eine anständigere, freiere Gesellschaft erhofft hatten, löste die Erkenntnis, dass es sich beim Ayatollah lediglich um einen weiteren Diktator handelte, massive Enttäuschung und ein Gefühl des Verratenseins aus. In diesem Prozess wurde auch ich auf schnelle, brutale Weise mit dem Leben im Iran ausserhalb meiner eigenen Schicht vertraut gemacht. Vor der Revolution hatte ich es mir leisten können, die politische Entwicklung im Land zu ignorieren. Jetzt nicht mehr.
Auch auf die Schulen hatte es Khomeini von Anfang an abgesehen. Privatschulen wurden sofort geschlossen. Die meisten Lehrer wurden entweder gefeuert oder in ärmliche Stadtbezirke versetzt, falls sie zuvor in reicheren Vororten unterrichtet hatten, während die fanatischen Lehrer, die die Taghouti hassten, in unsere Nachbarschaft kamen.
Auch Farhuds Schule war zu einer öffentlichen Schule geworden, in der kein einziger Lehrer von vorher mehr unterrichtete. Von Anfang an zeigten die Lehrer deutlich ihre Abneigung gegen die Kinder der Reichen. Ein Grossteil des Unterrichts konzentrierte sich auf den Koran; Fremdsprachen wie Englisch und Französisch, die die meisten der Kinder gelernt hatten, wurden verbannt – stattdessen wurde Arabisch zum Pflichtfach.
Die Hauptaufgabe der Lehrer schien darin zu bestehen, die Kinder mit allen Tricks dazu zu bringen, ihre Eltern auszuspionieren. In der Schule meines Sohnes brachte ein Lehrer mehrere Flaschen Scotch und Wodka mit und zeigte sie der Klasse.
„Wer mir sagen kann, ob er solche Flaschen zuhause gesehen hat, bekommt eine Belohnung“, versprach der Lehrer.
Das arme Kind, das die Hand hob und sagte, es hätte solche Flaschen bei sich zuhause gesehen, würde seine Eltern bald schon für eine Weile verlieren. Innerhalb von Stunden würde das Komiteh an die Tür klopfen und die Eltern verhaften.
Ich warnte meinen Sohn stets davor, irgend etwas von zuhause zu erzählen. Sollte er gefragt werden, ob ich irgendwelche Dinge im Haus hätte, sollte er stets nein sagen.
Eines Tages kam er von der Schule heim und berichtete stolz:
„Mami, ich habe heute etwas sehr Gutes getan. Der Lehrer zeigte mir einen Koran und fragte mich, ob wir zuhause einen hätten. Ich habe nein gesagt!“
Er strahlte übers ganze Gesicht, und mir brach fast das Herz, als ich meinem Kind zeigte, wo ich meinen Koran aufbewahrte, den ich zur Hochzeit bekommen hatte.
„Du musst den Leuten sagen, dass wir jeden Tag beten – selbst wenn es nicht stimmt“, erklärte ich ihm. Ich hasste mich selbst, dass ich ihm in so jungen Jahren das Lügen beibringen musste.
Ein letzter Nachmittag ohne Angst
(7)
Im Februar 1982 war ich mir ganz sicher, dass ich so bald wie möglich verschwinden musste. Mein Sohn litt immer stärker unter dem Schulsystem. Er lernte wenig anderes als den Koran, und die Lehrer bemühten sich kaum, ihre Abneigung gegenüber ihm zu verbergen, weil er das Kind reicher Eltern war. Ich schickte ihn mit alter, geflickter Kleidung zur Schule, damit er nicht auffiel. Doch er musste trotzdem den Spott der anderen Kinder ertragen.
Zur gleichen Zeit wurde mein Haus das Ziel ständiger Überwachung. Meine Schwiegereltern umkreisten mich wie Wachhunde. Meine Schwiegermutter machte gelegentlich Bemerkungen wegen meines Lebenswandels, und ich reimte mir zusammen, dass sie nach Möglichkeiten suchten, zu beweisen, dass ich eine ungeeignete Mutter war – und mir meinen Sohn wegzunehmen.
Eines Tages in jener Zeit beschloss ich, eine letzte grossartige – und gefährliche – Party zu geben. Nur wollte ich diesmal ausschliesslich Frauen einladen. Ich trommelte einige Freundinnen zusammen, und gemeinsam stellten wir eine Liste mit Tänzerinnen, Musikerinnen und Sängerinnen zusammen, die einen Nachmittag fröhlicher Unterhaltung ohne Angst begrüssen würden.
Als dieser Nachmittag kam, standen fast vierzig Frauen vor meiner Tür. Fünf Stunden lang sangen wir alte persische Lieder, tanzten traditionelle persische Tänze und lasen Gedichte vor: Wir lachten und weinten, während wir unsere Liebe zu unserem Land feierten und sein Elend betrauerten.
Eine der Frauen war eine bekannte Schauspielerin, die zu Zeiten des Schahs im Fernsehen mit ihrer berühmten verführerischen Stimme Passagen aus den Werken unserer grossen Dichter rezitiert hatte. Nach dem Verlust ihrer Arbeit war auch sie unter den Ayatollahs zur Ausgestossenen geworden. Jetzt weinte sie, als ihre Stimme wieder einmal süss dahinfliessend durch die dunklen, emotionalen Strömungen unserer Poesie glitt.
Sie rezitierte die Verse eines unserer modernen tragischen Poeten, Forugh Farrokzhad, der in den 60er Jahren soziale und sexuelle Tabus im Iran angegriffen hatte, bevor er im Alter von 32 bei einem Autounfall ums Leben gekommen war.
Aus grossen Fernen kamest du,
aus Ländern des Lichts und des Duftes.
Nun setzt du mich in ein Schiff
aus Elfenbein, aus Wolken, aus Kristall:
Oh bringe mich, bringe mich, herzerwärmende Hoffnung,
in die Stadt, wo Verse und Leidenschaften blühen.
Ich hatte auf dem Schwarzmarkt eine Menge Alkohol gekauft, und gegen das Ende des Nachmittags waren wir alle leicht betrunken und sehr emotional. Plötzlich bedauerte ich meinen Entschluss, den Iran zu verlassen: Nirgendwo auf der Welt würde ich solche Freundschaften finden. In dieser Nacht ging ich mit dem Gedanken ins Bett, vielleicht doch zu bleiben. Vielleicht würde alles mit der Zeit besser werden.
Hier ist es. Das ist die Grenze zur Türkei.
(8/Schluss)
Im Sommer 1982 entschliesst sich Sousan mit ihrem Sohn Farhad zur Flucht, nachdem sie vorübergehend sogar inhaftiert war. Eine legale Ausreise ist längst nicht mehr möglich. Sie heiratet überstürzt einen Freund, der ebenfalls flüchten will. Eine gute Freundin Sousans schliesst sich ihnen an, und am 4. Juli verlassen sie Teheran. Fluchthelfer bringen sie heimlich ins kurdische Grenzgebiet zur Türkei. Die Grenze ist nah - und scheint doch unerreichbar.
Über kleine Pfade ging es höher und höher in die Berge, vorbei an steilen Abgründen und über schnell dahinschiessende Flüsse. Wir waren nass, durchfroren und erschöpft. Als ich die steil abfallenden Hänge sah, begann ich meinen Reiter zu drängen, Farhad zu uns aufs Pferd zu nehmen. Wenn wir abstürzten, wollte ich meinem Kind nahe sein, um seinen Fall zu dämpfen. Schliesslich, als ich nicht aufhörte, ihn zu drängen, setzte der Reiter Farhad zu uns aufs Pferd.
Es war ein beängstigender Ritt. Der Pfad schraubte sich im Zickzack höher, und ich bemühte mich, nicht hinabzuschauen. In meiner Phantasie sah ich verborgene Täler und düstere Schluchten, Hunderte von Fuss unter uns. Der Pfad war mit Felsbrocken übersät, über die die Pferde stolperten. Ich klammerte mich an meinem Reiter fest, fest entschlossen ihn mit in die Tiefe zu reissen, sollte ich abstürzen.
Inmitten all dieser Gefahren begann der Kurde mit einer Hand über mein Bein zu streichen. Am liebsten hätte ich ihn geschlagen, wagte es aber nicht. Stattdessen nahm ich jedesmal seine Hand und beförderte sie zurück zu den Zügeln, wo sie hingehörte. Mein Zorn war um so grösser, weil ich nicht wagen durfte, ihn zu verärgern.
Mit der Zeit wurde das Gelände noch unwegsamer. Wir mussten absteigen und neben den Pferden hergehen. Unsere Jeans starrten vor Dreck. In regelmässigen Abständen rief ich leise: „Fahrad, bist du in Ordnung? Kamal? Shery?“
Ihre schwachen Antworten in der vollkommenen Dunkelheit beruhigten mich. Ansonsten aber durften wir nicht sprechen.
Wir ritten die ganze Nacht hindurch. Gegen 6 Uhr 30 wurde es hell. Wir stellten fest, dass der Boden weiss war und wir uns oberhalb der Schneegrenze befanden. Plötzlich stoppten die Reiter. Einer von ihnen sagte:
„Hier ist es. Das ist die Grenze zur Türkei.“
Ich merkte, dass ich bei einem anderen Reiter auf einem anderen Pferd sass als zu Beginn des Rittes. Ich hatte keine Ahnung, wann der Wechsel stattgefunden hatte. Erschöpfung, Verwirrung, aus der Finsternis auftauchende Schatten – das alles hatte seinen Preis gefordert.
Endlich drangen die Worte des Reiters in mein Bewusstsein. Ich sprang vom Pferd, riss Farhad in meine Arme und herzte ihn, bis er keine Luft mehr bekam.
„Wir sind frei, Farhad, wir haben es geschafft! Wir sind aus dem Iran draussen. Wir werden in einem freien Land leben. Niemand wird mich mehr verhaften.“
Zwei Tage und zwei Nächte lang hatte mein Sohn mit keinem Wort danach gefragt, wohin wir unterwegs waren. Doch jetzt fragte er: „Mami, heisst das, dass ich bei dir beide bleiben kann? Dass ich nicht zu meinen Grosseltern muss?“
„Nie wieder, mein Liebling“, sagte ich, „nie wieder. Wir werden nach Europa und Amerika gehen. Erinnerst du dich an all die Sachen, von denen ich dir erzählt habe? Wir besuchen Disneyland und alle unsere Verwandten in Kanada und den Vereinigten Staaten. All das und noch viel mehr werden wir unternehmen.“
Merkwürdig, auf dem Gipfel eines verlassenen schneebedeckten Berges in Vorderasien über Disneyland zu reden. Aber es blieb keine Zeit, die eigenartige Qualität dieses Augenblicks zu erfassen. Eine weitere, schwierige Phase unserer Flucht lag vor uns. Entgegen allen Versprechungen war noch immer kein Wagen zu sehen – nun, da wir müde, hungrig und unglaublich durstig an der rettenden Grenze angelangt waren. Es gab keine Strasse, nicht einmal einen Weg. Wir mussten langsam auf der anderen Seite des Berges, den wir so mühsam erklettert hatten, absteigen.
***
Sousan lebt heute in Kanada. Sie ist nie mehr in ihre Heimat zurückgekehrt.
Sousan Azadi "Flucht aus dem Iran" ("Out of Iran"), aufgezeichnet von Angela Ferrante. Das Buch erschien 1987.
Lawrence Beesley: Der Untergang der Titanic (1)
Lawrence Beesley
The Loss of the SS. Titanic (1)
Der Untergang der Titanic - ein Augenzeugenbericht
2012 jährt sich zum 100. Mal der Untergang der Titanic. Viel ist darüber geschrieben worden, beträchtlich ist die Zahl der Spiel- und Dokumentarfilme, und niemand, der sie gesehen hat, wird die Szene jemals vergessen, in der Kate Winslet und Leonardo di Caprio am Bug des Schiffes - ahnungslos, was nur Stunden später geschehen wird - die Freiheit der Liebe entdecken.
Augenzeugenberichte von Passagieren, die überlebten, gibt es ebenfalls viele. Zwei Namen jedoch überragen alle andern: Lawrence Beesley und Colonel Archibald Gracie. Ihre Berichte haben auch mich so gepackt - und berührt -, dass ich Sie beim Wiederlesen daran teilhaben lassen möchte. Sie finden Beesleys Bericht hier in Auszügen, die von mir leicht bearbeitet wurden.
Das Erstaunliche an Beesleys Schilderung ist, dass sie bereits 8 Wochen nach dem Unglück, im Juni 1912 erstmals veröffentlicht wurde. Der Autor war ein junger englischer Hochschullehrer, der sich auf dem Weg zu einer Studienreise in die USA befand. Er reiste 2. Klasse. Im Vorwort seines Berichtes erklärt er, was ihn nach seiner Rettung dazu bewegte, das Buch zu schreiben.
Etwa fünf Wochen nach der Ankunft der Überlebenden in New York war ich als offizieller Gast bei Honorable Samuel J. Elder und Honorable Charles T. Gallagher, beide bekannte Rechtsanwälte in Boston, eingeladen. Nach dem Essen wurde ich gebeten, den Anwesenden von den Erfahrungen der Geretteten zu berichten. Als ich geendet hatte, drängte mich Mister Robert Lincoln O'Brien, Herausgeber des "Boston Herald", im öffentlichen Interesse die tatsächliche Geschichte des Titanic-Desasters aufzuschreiben. Er wurde in seiner Auffassung von allen Anwesenden unterstützt, und diesem allgemeinen Druck nachgebend, begleitete ich ihn zum Verlagshaus Houghton Mifflin, wo wir die Frage einer Veröffentlichung besprachen."
Man kam überein, den Bericht möglichst bald zu veröffentlichen, um damit die Wahrheit über das Geschehene zu verbreiten - und anderen Publikationen entgegenzutreten, die sehr unsachgemäss über das Unglück berichteten.
Ein weiterer Grund drängte den Autor, zur Feder zu greifen. Er empfand tief die moralische Pflicht gegenüber den Opfern, darauf hinzuwirken, dass ein solches Unglück nie wieder geschah.
"Wer immer auch Berichte über die Schreie gelesen hat, die uns Überlebende von jenen erreichten, die im eiskalten Wasser versanken, sollte daran erinnert werden, dass sie an ihn genauso gerichtet sind wie an uns."
100 Jahre sind vergangen seit jenen Schreien in der Mitte des Atlantiks. Sie erreichen uns heute noch.
Ihr Zuspätkommen rettete ihnen das Leben
(1)
Southampton, 10. April 1912. Die Titanic läuft mit 2208 Passagieren und Besatzungs-mitgliedern zu ihrer Jungfernfahrt nach New York aus...
Nachdem ich die Nacht bereits in Southampton verbracht hatte, sass ich am Morgen im Frühstücksraum des Hotels genau vor dem Fenster, von dem aus man die vier hohen Schornsteine der Titanic sehen konnte. Sie überragten die Dächer der Hafengebäude bei weitem - es war ein grossartiger Anblick.Um 10 Uhr ging ich selber an Bord. Zwei Freunde aus Exeter, die mich zum Schiff begleiten wollten, durften mit mir aufs Schiff, denn es blieb noch Zeit bis zur Abfahrt. Wir schlenderten auf den Decks herum, blickten in all die Säle, Salons und Bibliotheken und waren uns einig, dass man sich auf dem Schiff hoffnungslos hätte verirren können.
Wir gelangten auch in die Turnhalle – wo wir Zeuge einer seltsamen Szene wurden. Ein Fahrradtrainer in weissem Anzug war damit beschäftigt, Passagiere, die dies wünschten, auf ein elektrisch betriebenes „Kamel“ oder „Pferd“ zu setzen. Hierauf schaltete er einen kleinen Motor ein, der die Maschinen zu sehr wirklichkeitsnahen Kamel- und Pferdebewegungen antrieb. Eine wachsende Gruppe von Zuschauern sah den ungeübten Reitern zu, wie sie hilflos auf- und niedergeschwungen wurden.
Es ist erzählt worden, dass in der Nacht des Unglücks, kurz bevor die Titanic sank, der Instrukteur in der Turnhalle noch immer im Dienst war, mit Passagieren auf den Fahrrädern und den Rudermaschinen, helfend, aufmunternd bis zuletzt. Auch sein Name sollte verewigt werden in der Ehrenliste derer, die ihre Pflicht auf dem Schiff treu erfüllten.
Gleich nach Mittag verkündete die Dampfpfeife meinen Freunden, dass sie von Bord gehen mussten. Die Gangway wurde eingezogen , und die Titanic bewegte sich langsam aus dem Hafenbecken, begleitet von den letzten Abschiedsgrüssen und Rufen jener, die auf dem Kai zurückblieben.
Wenn das grösste Schiff der Welt zu seiner Jungfernfahrt verabschiedet wird, hätte man von den anderen Schiffen im Hafenbecken zumindest ein Hurra oder sonst ein Getue erwarten dürfen. Das war nicht der Fall. Das Auslaufen der Titanic verlief recht ruhig und gewöhnlich – unterbrochen nur von zwei Zwischenfällen, die allerdings erwähnt werden müssen.
Der erste ereignete sich, genau bevor die letzte Verbindung zum Kai unterbrochen wurde. Eine Gruppe von Heizern rannte entlang des Kais auf die Gangway zu, ihre Kleider und Habseligkeiten um die Schultern geschlungen, in der Absicht, das Schiff doch noch zu erreichen. Aber ein Unteroffizier, der dort Wache stand, wies sie zurück, entschlossen, sie nicht an Bord zu lassen.
Sie erklärten sich, gestikulierten, offensichtlich um zu versuchen, ihre Verspätung zu rechtfertigen. Doch der Wachhabende liess sich nicht umstimmen. Die Landungsbrücke wurde trotz ihres Protestes zurückgezogen – ein endgültiges Ende unter ihre Bemühungen setzend, an Bord zu gelangen.
Diese Heizer müssen heute dankbare Männer sein – dankbar dafür, dass irgendwelche Umstände, sei es die eigene Unpünktlichkeit oder ein unerwartetes Hindernis sie daran hinderten, rechtzeitig da zu sein. Sie werden – und das ohne Zweifel für den Rest ihres Lebens – diese Geschichte immer wieder erzählen: Wie ihr Zuspätkommen zur Titanic ihr Leben gerettet hat.
Eine böse Prophezeiung
(2)
Der zweite Zwischenfall, von dem Lawrence Besley berichtet, geschah unmittelbar danach. Als die Titanic majestätisch aus dem Hafenbecken fuhr, passierte sie den Dampfer "New York", der am Kai lag. Als der Schiffsbug der Titanic den Bug der New York erreichte, setzte sich der Dampfer – zur Verwunderung aller, die dies beobachteten – ohne Ankündigung in Bewegung.
...Und dann kroch die New York auf uns zu, langsam und heimlich, wie von einer unsichtbaren Kraft gezogen, der sie nicht widerstehen konnte. Befehle wurden gerufen, Seeleute rannten hin und her, liessen Seile herab und warfen Fender über die Seite, an der wir scheinbar zusammenstossen würden. Zuerst sah es tatsächlich so aus, als ob dies geschehen würde. Doch von der hinteren Brücke der Titanic dirigierte ein Offizier Massnahmen, die uns stoppten. Der Sog hörte auf – und das Heck der New York glitt nur wenige Meter entfernt an der Titanic vorbei.
Niemand anders war mehr interessiert an dem, was geschah, als ein amerikanischer Kinematograph, der mit seiner Frau die Szene mit ungeduldigen Augen verfolgte, seine Handkurbel mit einer Inbrunst drehend, als bekäme er so die stärkste Einstellung auf seinen Film. Aber weder der Film noch jener, der ihn gedreht hatte, erreichte das andere Ufer - und so wurde die Aufzeichnung dieses Zwischenfalls nie auf eine Leinwand gebracht.
Als wir den Fluss Richtung Meer weiter hinunterdampften, war die Begebenheit Mittelpunkt jeder Unterhaltung auf Deck. Es muss darüber gesprochen werden – auch wenn es schwerfällt -, dass es unter den Passagieren und der Besatzung die fürchterlichsten Ahnungen gab über den Zwischenfall. Vor allem Seeleute sind aussergewöhnlich abergläubisch. Ich möchte in einem späteren Kapitel diese Form des Aberglaubens wieder aufgreifen, will aber ein zweites sogenanntes düsteres Vorzeichen ansprechen, das etwas später bei unserem letzten Zwischenhalt in Queenstown geschah.
Als sich eins der Zubringerboote mit Post und Passagieren der Titanic näherte, blickten einige der Neuankömmlinge von unten auf das Schiff, das sich über ihnen erhob – und sahen weit oben den Kopf eines Heizers, schwarz von der Arbeit in seinem Heizraum, der von der Spitze eines mächtigen Schornsteins – es war die Belüftungsklappe – herabsah.
Er war zum Spass im Innern des Schornsteins hinaufgeklettert, doch für einige, die ihn erblickten, war damit ein Zeichen gesetzt, dass eine böse Prophezeiung eine unbekannte schreckliche Frucht tragen könnte. Eine amerikanische Passagierin – sie möge mir vergeben, wenn sie diese Zeilen liest – wandte sich an mich in tiefster Überzeugung und grosser Ernsthaftigkeit. Sie brachte das Erscheinen des schwarzen Mannes mit der Befürchtung in Verbindung, dass die Titanic bald sinken werde.
Eine goldene Spur
(3)
Nach einem ersten Halt in Cherbourg, auf der französischen Seite des Ärmelkanals, erreicht die Titanic das irische Queenstown, wo die letzten Passagiere an Bord kommen, bevor das Schiff in die Weite des Atlantiks hinausfährt.
Als erneut die Dunkelheit anbrach, verschwand die Küste nach achtern; und das letzte, was wir von Europa sahen, waren die irischen Berge, die in der beginnenden Finsternis schwach leuchteten. Mit diesem Gedanken, dass wir das letzte Land gesehen hatten, bevor wir unsere Füsse auf amerikanischen Boden setzen würden, zog ich mich in die Bibliothek zurück, um einige Briefe zu schreiben. Ich tat es, ohne zu ahnen, was uns erwartete, bevor wir wieder Land sichten würden.
Es gibt wenig zu erzählen über die Tage nach dem Verlassen von Queenstown. Die See war ruhig - so ruhig, dass nur wenige Passagiere den Mahlzeiten fernblieben. Der Wind kam aus West bis Südwest, frisch – wie ihn die tägliche Wetterkarte beschrieb -, aber meist kalt, im allgemeinen zu kalt, um an Deck zu sitzen, so dass viele von uns eine größere Zeitspanne lesend oder schreibend in der Bibliothek zubrachten. Ich schrieb eine grosse Anzahl von Briefen und brachte sie Tag für Tag zum Postkasten vor dem Eingang - wahrscheinlich sind sie noch dort.
Jeden Morgen ging die Sonne hinter uns auf in einem Himmel mit kreisförmigen Wolken, breitete sich in langen schmalen Streifen über den Horizont aus und hob sich Stück für Stück über das Meer, rot und orange und schattiert von orange bis weiss, je höher sie in den Himmel stieg. Es war eine wundervolle Ansicht für jemanden, der den Ozean noch nie überquert hatte, auf dem höchsten Deck zu stehen und auf die Wellen zu schauen, die vom Schiff fortstrebten in einem ununterbrochenen Strom, bis zur Unendlichkeit.
Abend für Abend dann sank die Sonne, ihre Bahn vollendend, zurück in die See, einen glitzernden Pfad weisend, eine goldene Spur auf die Oberfläche des Meeres zeichnend, der unser Schiff unentwegt folgte. Wie ein goldener Ball glitt sie über die Kante des Horizonts; das Gold verlöschte, so schnell, dass wir mit den Augen kaum folgen konnten. Dann war sie verschwunden.
Von 12 Uhr mittags am Donnerstag bis 12 Uhr mittags am Freitag liefen wir 286 Meilen, Freitag bis Samstag 519, Samstag bis Sonntag 546 Meilen. Die zurückgelegte Strecke am zweiten Tag war, wie uns der Zahlmeister verriet, eine Enttäuschung. Statt am Mittwochmorgen, wie angenommen, würden wir erst am Donnerstagmorgen am Ziel sein. Wie auch immer - am Sonntag waren wir erfreut, zu hören, dass wir aufgeholt hatten und New York voraussichtlich schon in der Nacht zum Mittwoch erreichten.
Der Zahlmeister merkte an: "Ich glaube nicht, dass wir mehr als 546 machen werden – kein schlechtes Ergebnis für die erste Reise."
Das war beim Mittagessen, und ich erinnerte mich an die Gespräche, die sich um die Geschwindigkeit und die Bauart von Atlantikschiffen drehten. Alle unter uns, die schon vielfach übergesetzt hatten, waren einstimmig der Meinung, dass die Titanic das komfortabelste Schiff war, auf dem sie je gewesen wären, und dass sie unsere Geschwindigkeit der von noch schnelleren Schiffen vorzögen.
Bei meinen Spaziergängen auf Deck, nach hinten blickend, zum Achterdecksteil, beobachtete ich immer wieder, wie die Dritte-Klasse-Passagiere vergnügt ihre Zeit verbrachten: Ein lärmendes Seilspringen war die grosse Zugnummer, während ein Schotte hin und her und rundherum ging und auf seinem Dudelsack etwas spielte.
Abseits von allen stand oft ein Mann von vielleicht 20 oder 24 Jahren, gut angezogen, immer behandschuht und sehr gepflegt – und ganz bestimmt völlig fehl am Platze zwischen seinen Mitpassagieren. Die ganze Zeit sah er nie fröhlich aus. Er wirkte auf mich wie einer, der zu Hause auf irgendeine Art ein Versager ist und sich nun eine Dritte-Klasse-Überfahrt nach Amerika ergattert hat. Er sah nicht so aus, als könnte er seine Probleme in Amerika drüben lösen.
Ein anderer interessanter Mann war der Reisende dritter Klasse, der seine Frau in der zweiten Klasse einquartiert hatte. Er kam jeweils die Stufen herauf zum B-Deck, um sich mit seiner Gattin aufs zärtlichste über der kleinen Pforte zu unterhalten, die sie trennte. Ich glaube, seine Frau gehörte zu den Geretteten auf der Carpathia. Doch ihn sah ich nicht mehr. Auch den jungen Mann traf ich nicht mehr. Den Schotten, der so lustig Dudelsack spielte, und die anderen auf dem Achterdeck – ich sah sie alle nicht mehr.
Ein Sonntagnachmittag auf See
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Die Morgenandacht am Sonntag – es war der 14. April – wurde vom Zahlmeister gehalten, und als wir nach dem Mittagessen an Deck gingen, bemerkten wir eine solche Temperaturänderung, dass nur wenige es sich zumuteten, sich dem kalten Wind auszusetzen – ein Wind, der hauptsächlich, wenn nicht vollständig, durch die rasche Fahrt des Schiffes und die eisige Atmosphäre verursacht wurde. Wie die ruhige See zu erkennen gab, wehte nicht wirklich ein Wind.
Zur Bibliothek zurückkehrend, hielt ich mich einen Moment damit auf, unsere Position auf der Karte zu betrachten. Dabei traf ich Reverend Carter, einen Geistlichen der Kirche von England. Wir nahmen unsere am Vortag geführte Unterhaltung wieder auf, mit einer Diskussion über die Vorzüge seiner Universität und der meinen – Oxford und Cambridge – als weltweit führende Erziehungsstätten. Wir sprachen über die Möglichkeiten der Universitäten zur Charakterbildung und gelangten schliesslich zur Arbeit des Reverend. Er erzählte von seinen Problemen in der Gemeinde und von der Unmöglichkeit, seine Arbeit ohne die Hilfe seiner Frau zu bewältigen.
Als nächstes erwähnte er das Fehlen eines Gottesdienstes hier auf dem Schiff, und er fragte mich, ob ich den Zahlmeister so gut kennen würde, dass ich ihn fragen könnte, ob der Salon für einen Liederabend benützt werden dürfe. Der Zahlmeister gab sofort seine Zustimmung, und Reverend Carter begann am Nachmittag mit einer Befragung aller, die er kannte – es waren nicht wenige -, um 20.30 Uhr in den Salon zu kommen.
Die Bibliothek war schon nachmittags bevölkert, auch wegen der Kälte an Deck, aber durch die Fenster konnten wir den klaren Himmel sehen mit herrlichem Sonnenlicht. Das Wetter versprach eine sternklare Nacht und auch einen klaren morgigen Tag, mit ruhigem Wetter bis nach New York. Für uns alle war das ein Grund mehr, den Sonntag in aller Zufriedenheit zu verbringen.
Ich kann zurückblicken und sehe jede Einzelheit jenes Nachmittags vor mir – der wundervoll ausgestattete Bibliotheksraum mit Sofas, Sesseln, schmalen Schreib- und Konsoltischen und Stehpulten an den Wänden; die Bibliothek selbst mit ihren durchsichtigen Regalen, das Ganze ausgeführt in Mahagoni mit hölzernen Säulen.
Durch die Fenster ist ein geschützter Korridor zu sehen, der in allgemeiner Übereinstimmung als Kinderspielplatz genutzt wird. Dort spielen die beiden Kinder der Familie Navtrial mit ihrem Vater, der ihnen zärtlich zugewandt ist und sie nie aus den Augen lässt.“
Navtrial, ein Franzose, hatte sich in Nizza heimlich und unter falschem Namen mit seinen Kindern davongemacht und seine Frau verlassen. Er ertrank mit der Titanic - seine Kinder jedoch überlebten und wurden ihrer Mutter zurückgebracht. Alle Zeitungen schrieben darüber - die Tragödie der Navtrials war in aller Munde.
„Wer aber“, fährt Beesley fort, „wollte an eine so dramatische Geschichte denken angesichts der glücklichen Gruppe, die sich an jenem Nachmittag auf der Titanic im Korridor vor der Bibliothek vergnügte? Wie viele weitere, ähnliche Geheimnisse und Tragödien nahm die Titanic mit in ihr Grab? Wir werden es nie erfahren.
Der letzte Liederabend
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Im gleichen Korridor - vor der Bibliothek - halten sich ein Mann und eine Frau mit zwei Kindern auf. Eins davon wird meist vom Vater getragen, und alle sind sie jung und glücklich. Der Mann trägt immer einen grauen Knickerbockeranzug und hat einen Photoapparat um die Schulter geschlungen. Ich habe niemanden dieser Familie wiedergesehen.
Unmittelbar neben mir befanden sich zwei amerikanische Frauen, beide in Weiss gekleidet; jung, möglicherweise Freundinnen, eine auf dem Rückweg von England nach Indien, die andere eine Lehrerin in Amerika, ein anmutiges Mädchen mit einer bemerkenswerten Ausstrahlung. An ihrer lebhaften Unterhaltung nahm ein Gentleman teil, genial, charmant und mit einer höflichen Art zu den beiden Frauen, die er offenbar erst auf dem Schiff kennengelernt hatte. Ich habe keinen von ihnen wiedergesehen.
In der gegenüberliegenden Ecke sassen der amerikanische Kinematograph und seine Frau, augenscheinlich Französin, sehr gewandt in Geduldspielen – während er, zurückgelehnt in seinen Sessel, das Spiel beobachtete und von Zeit zu Zeit Anregungen gab. Ich sah sie beide nicht wieder.
In der Mitte des Raumes hielten sich zwei katholische Priester auf, einer lesend – entweder Engländer oder Ire -, der andere dunkel, bärtig, mit einem breitkrempigen Hut, einem Freund in deutsch etwas in Ohr flüsternd und dauernd Textstellen aus der Bibel erklärend, die aufgeschlagen vor ihm lag. In ihrer Nähe stand ein Feuerwehringenieur, der sich auf dem Weg nach Mexiko befand. Niemand von ihnen wurde gerettet. Es soll an dieser Stelle gesagt sein, dass der Prozentsatz der geretteten Männer der zweiten Klasse der niedrigste von allen war – 8 Prozent.
Viele andere Gesichter tauchen in Gedanken auf, unmöglich, sie alle hier zu beschreiben. Von ihnen allen jedenfalls kann ich mich nur an zwei oder drei erinnern, die ich später auf der Carpathia – dem Rettungsschiff – wiedersah.
Nach dem Abendessen bat Reverend Carter alle, die es gewünscht hatten, in den Salon. Mit der Unterstützung eines Mannes am Klavier – ein junger schottischer Ingenieur, der seinem Bruder nach Amerika folgte – brachte der Pfarrer einige hundert Passagiere dazu, Kirchenlieder zu singen. Die Anwesenden wurden von ihm aufgefordert, Lieder vorzuschlagen, und es war merkwürdig zu sehen, wie viele Lieder ausgewählt wurden, die sich mit den Gefahren der See befassten. Besonders die Hymne „Für alle in Lebensgefahr auf See“ wurde mit grosser Andacht gesungen.
Der Gesang muss länger als bis 22 Uhr gedauert haben, denn wir sahen den Steward bereitstehen, darauf wartend, Kekse und Kaffee servieren zu dürfen, um seinen Dienst danach beenden zu können. Mit einigen Dankesworten an den Zahlmeister für dessen Erlaubnis, den Salon benützen zu dürfen, brachte Reverend Carter den Liederabend zu Ende. Er sprach zum Schluss über das Glück und die Sicherheit der bisherigen Reise, das grosse Vertrauen aller an Bord in dieses grosse Schiff und die glückliche Aussicht auf die bevorstehende Ankunft in New York.
Während er so zu uns sprach, lag nur noch wenige Meilen vor uns die von uns allen besungene „Lebensgefahr auf See“ – jener unsensible Eisblock, der dieses grosse Schiff zum Sinken bringen würde. Welche Schande, dass eine nichtsnutzige Masse Eis die Kraft besass, die wundervolle Titanic zu vernichten und das Leben so vieler guter Männer und Frauen gewaltsam zu beenden. Es ist unfassbar! Warum sind wir nicht in der Lage, solche Gefahren vorherzusehen und zu vermeiden?
Als der Anlass zu Ende war, unterhielt ich mich mit dem Pfarrer und seiner Frau bei einer Tasse Kaffee. Auch die Carters waren gute Leute - die Welt ist ärmer geworden durch ihren Verlust. Ich sagte ihnen dann Gute Nacht und zog mich etwa um viertel vor elf in meine Kabine zurück.
In der Stille der Nacht
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Ich hatte das Glück, eine Zwei-Bett-Kabine für mich allein zu haben, nahe beim Salon und sehr günstig gelegen für alle Wege an Bord. Auf einem so grossen Schiff wie der Titanic war es von Vorteil, auf dem D-Deck zu sein, nur drei Decks unterhalb vom obersten Deck. Um vom F-Deck ganz hinauf zu gelangen, musste man fünf Stockwerke erklimmen, was eine bedeutende Anstrengung für ungeübte Leute darstellte.
Kein anderer Eindruck gab die Grösse des Schiffes besser wieder, als wenn man den Fahrstuhl bestieg und mit ihm vom obersten Deck langsam, bei jeder Etage haltend, wie in einem grossen Hotel, abwärts fuhr. Es würde mich interessieren, was aus dem Liftjungen geworden ist. Er war sehr jung, nicht mehr als 16, vermute ich, ein hübscher Jüngling mit einer Vorliebe für die See und den Blick auf den Ozean. Doch von all dem bekam er nichts mit.
Eines Tages, als er mich vom Lift nach draussen begleitete und durch das Fenster ein paar junge Leute auf Deck etwas spielen sah, sagte er in einem hoffnungsvollen Ton:
„Oh, ich wünschte, ich könnte manchmal hinausgehen auf Deck!“
Ich wünschte es ihm auch und machte ihm das Angebot, für eine Weile auf seinen Lift achtzugeben, damit er sich das Spiel draussen anschauen könne. Doch er schüttelte freundlich lächelnd den Kopf und kehrte zurück in seinen Lift, einem Klingelbefehl von unten folgend.
Ich denke, dass er nach dem Zusammenstoss nicht mehr im Dienst war. Aber wäre er es gewesen, dann hätte er seine Fahrgäste die ganze Zeit über, während er sie zu den rettenden Booten beförderte, weiterhin angelächelt und den Lift nicht verlassen.
Nachdem ich in meiner Kabine angekommen war, mich entkleidet und das obere Bett bestiegen hatte, las ich noch eine Weile. Während dieser Zeit – zwischen viertel nach elf und dem Augenblick des Zusammenstosses um viertel vor zwölf – bemerkte ich stärkere Vibrationen des Schiffes, die mich vermuten liessen, dass wir schneller fuhren als je zuvor.“
Beesley erwähnt dies deshalb, weil nach dem Unglück der Vorwurf auftauchte, die Beschleunigung der Geschwindigkeit in jener Nacht habe es dem Schiff verunmöglicht, dem Eisberg auszuweichen. Das zunehmende Vibrieren bleibt dem Titanic-Passagier so stark in Erinnerung, dass er sich unmöglich getäuscht haben kann:
„Zwei Dinge bringen mich zu dieser Überzeugung: erstens, als ich ausgezogen auf meinem Sofa sass, mit nackten Füssen auf dem Boden, spürte ich deutlich die Vibrationen direkt aus den Maschinen unter mir; und zweitens, als ich mich in meiner Koje zum Lesen aufrichtete, vibrierten die Sprungfedern meiner Matratze schneller als sonst.
Und dann – als ich so las in der Stille der Nacht, nur unterbrochen von Geräuschen, die durch die Lüftungen drangen, Gesprächsfetzen, die aus den Gängen kamen – trat dasjenige ein, was auf mich lediglich wirkte wie eine zusätzliche Anstrengung der Maschinen, eine Bewegung in der Matratze, auf der ich sass. Nicht mehr als das – kein krachendes Geräusch, kein Eindruck von Schock, kein Misston, wie er entstehen könnte, wenn zwei schwere Körper aufeinander treffen.
Kurz darauf wiederholte sich die Bewegung. Mein erster Gedanke war, dass die Geschwindigkeit noch mehr erhöht worden war – etwas anderes dachte ich nicht. In diesen gleichen Sekunden wurde die Titanic aufgerissen durch den Eisberg, und es stürzten Massen von Wasser in ihre Seite.
Wir aber merkten nichts.
Es wäre besser gewesen, es hätte einen Stoss gegeben oder wenigstens einen Widerstand in der Bewegung des Schiffes, der uns aus den Betten geworfen hätte. Dann wäre der Alarm früher ausgelöst worden, und die Rettung hätte früher mobilisiert werden können.
So aber nahm ich das Lesen wieder auf, begleitet noch immer von den entfernten Geräuschen aus den anliegenden Kabinen. Sonst hörte man nichts, keine Schreie, kein Rufen, keine Durchsage, niemand, der aufgeregt durch die Gänge eilte – nichts. Es erfüllt mich heute noch mit Erstaunen, wenn ich mich an jene ersten Minuten erinnere.
Ein Eisberg am Fenster
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Nach einiger Zeit jedoch fühlte ich die Maschinen sich verlangsamen und dann stillstehen. Die tanzenden Bewegungen und die Schwingungen, die uns bisher begleitet hatten, verstummten plötzlich – und das war der erste Hinweis, dass etwas Aussergewöhnliches geschehen sein musste.
Wir kennen alle die tickende Uhr im Raum, die erst wahrgenommen wird, wenn sie aufhört zu ticken, weil wir unbewusst das Ticken vermissen. So war es auch jetzt, als die Maschinen auf einmal anhielten. Aber den Grund, weshalb die Maschinen stoppten, wussten wir nicht.
Ich sprang aus dem Bett, schlug mir einen Umhang über den Pyjama, zog Schuhe an und begab mich aus meiner Kabine in die Halle nahe beim Salon. Hier traf ich einen Steward, der am Treppengeländer lehnte.
Er wartete offenbar darauf, dass die letzten Gäste des Rauchersalons zu Bett gehen würden, damit er die Lichter löschen konnte.
Ich sagte: „Warum haben wir angehalten?“
„Ich weiss es nicht, mein Herr“, antwortete er, „aber ich vermute, es ist nichts Ernstes.“
„Nun“, sagte ich, „dann gehe ich mal an Deck und schaue nach.“
Während ich zur Treppe schritt, lächelte er mir nachsichtig zu und meinte: „In Ordnung, mein Herr. Aber es ist ziemlich kalt dort oben.“
Ich bin sicher, dass er mich für ein wenig verrückt hielt, mitten in der Nacht, nur in Pyjama und Umhang gekleidet, an Deck zu gehen. Und ich muss gestehen, dass ich es selbst ein wenig absurd fand. Ich erklomm die drei Stockwerke, öffnete die Aussentür, um an Deck zu gelangen - und trat in eine Kälte hinaus, die mich wie mit Messern schnitt, so wie ich angezogen war.
Hinübergehend nach Steuerbord, blickte ich über Bord und sah das Wasser viele Fuss unter mir, ruhig und schwarz. Vor mir erstreckte sich das verlassene Deck bis zur ersten Klasse und der Kommandobrücke; nach hinten erstreckte es sich bis zur hinteren Brücke. Nichts Ungewöhnliches war zu hören oder zu sehen. Ausser mir waren zwei, drei andere Männer an Deck, und mit einem von ihnen – dem schottischen Ingenieur, der den Liederabend am Piano begleitet hatte – verglich ich den Stand unserer Erkenntnisse. Er hatte sich gerade ausziehen wollen, als die Maschinen anhielten, und war sofort heraufgekommen, so dass auch er ziemlich wenig anhatte.
Als weiterhin nichts geschah, begaben wir uns auf das untere Deck. Durch die Fenster des Rauchsalons beobachteten wir den Fortgang eines Kartenspiels mit einigen Zuschauern drum herum und gingen hinein, um zu erkunden, ob sie mehr wüssten als wir. Auch sie hatten kaum mehr mitbekommen – ausser, dass einer von ihnen einen Eisberg durchs Fenster gesehen hatte. Er machte seine Mitspieler darauf aufmerksam. Doch dann sahen sie den Eisberg verschwinden und setzten ihr Kartenspiel fort.
Die allgemeine Vermutung war, dass die Titanic das Hindernis berührt haben könnte. Der Kapitän, so wurde gemutmasst, habe das Schiff darauf angehalten, um es sicherheitshalber zu überprüfen.
„Ich denke, der Eisberg hat der Titanic von ihrer neuen Farbe etwas abgekratzt“, sagte einer der Anwesenden, „und der Kapitän möchte nicht weiterfahren, bis sie wieder frisch gestrichen ist.“
Wir lachten über seine Einschätzung der Sorge des Kapitäns. Ein Spieler wies auf das Glas Whisky neben sich, wandte sich an einen der Zuschauer und schlug vor: „Geh doch mal an Deck und schau nach, ob vom Eisberg noch etwas da ist. Ich hätte gern ein paar Eiswürfel.“
Stellen Sie sich das Gelächter vor, als wir uns dieses vorstellten, wirklich gut, ehrlich! Und es stimmte sogar: Das vordere Deck war infolge des Aufpralls tatsächlich bedeckt mit Splittern des Eisbergs. Es betrübt mich, daran zu denken, dass ich keinen der Mitreisenden aus dem Rauchsalon wiedersah: Fast ausnahmslos junge Männer, aufgeweckt, eifrig, ledig die meisten, voller Hoffnung in ihre Zukunftsaussichten in der Neuen Welt!
Als ich sah, dass keine weiteren Informationen erhältlich waren, verliess ich den Salon und kehrte zurück in meine Kabine. Ich nahm mein Buch hervor, las darin und gedachte, bald einzuschlafen.
Eine leichte Schräglage
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Einige Augenblicke später, hörte ich Leute vor meiner Kabine auf dem Gang und entschied mich ebenfalls, wieder an Deck zu gehen, da ich ohnehin keinen Schlaf fand. Um nicht wieder zu frieren, zog ich diesmal mein Norfolk-Jackett und Hosen an.
Es hielten sich nun mehr Passagiere an Deck auf als vorher, alle hin- und her gehend, über die Reling blickend und einander fragend, warum wir gestoppt hatten. Eine befriedigende Antwort erhielten sie nicht, so wenig wie ich. Immerhin hatte das Schiff nun seinen alten Kurs wiederaufgenommen und bewegte sich, sehr langsam zwar, durch das Wasser. Ich denke, wir alle waren erfreut, dies zu bemerken.
Als ich von Steuerbord nach Backbord wechselte, um durch das Treppenhaus nach unten zu gehen, sah ich einen Offizier mit dem hinteren Rettungsboot – der Nummer 16 – beschäftigt. Er entfernte die Abdeckung, aber ich erinnere mich, dass ihm niemand besondere Aufmerksamkeit schenkte. Nach wie vor war unter den Passagieren nicht die geringste Spur von Panik oder Hysterie zu bemerken, da es offensichtlich keine Anzeichen für Gefahr gab.
Ich passierte die Tür nach innen - und erblickte zu meiner grossen Überraschung eine leichte Schräglage von hinten nach vorn. Diese Neigung verursachte ein merkwürdiges Gefühl, als ich auf der Treppe hinabging. Nichts schien mehr im Lot zu sein. Da die Treppe ganz leicht abwärts geneigt schien, hatte man bei jedem Schritt das Gefühl, nach vorne zu fallen. Zu erkennen jedoch, mit dem Auge, war das Schrägstehen der Treppe nicht.
Auf dem D-Deck standen drei Frauen vor ihrer Kabine – ich glaube, sie wurden alle gerettet – und fragten mich: „Warum liegen wir fest?“
„Wir haben angehalten“, erwiderte ich, „aber jetzt fahren wir weiter. Sie dürfen beruhigt sein.“
„Oh nein“, sagte eine der Damen, „ich kann die Maschinen nicht fühlen und auch nicht hören. Horchen Sie selbst!“
Wir horchten, und es war tatsächlich kein Geräusch auszumachen. Darauf erlaubte ich mir, die Damen in ihr Badezimmer zu führen, wo ich sie ihre Hände auf den Badewannenrand legen liess. Sie waren erstaunt, das von unten her kommende Schlagen der Maschinen auf diese Weise zu spüren und zu wissen, dass wir vorankamen.
Im Weitergehen, auf dem erneuten Rückweg zu meiner Kabine, kam ich an einigen Stewards vorbei, die unbeteiligt an der Salonwand lehnten und sich unterhielten. Ich übertreibe nicht, wenn ich sage, dass sie keine Ahnung hatten von dem, was geschehen war. Ihre ganze Erscheinung brachte vollkommene Zuversicht zum Ausdruck.
In meinen Gang einbiegend, erblickte ich einen Mann am anderen Ende, der mir zurief, ob es etwas Neues gebe.
„Nicht viel“, antwortete ich, „wir fahren langsam weiter, und das Schiff liegt vorn etwas tiefer für mein Gefühl. Aber ich denke, es ist nichts Ernstes.“
„Kommen Sie herein“, meinte er darauf und winkte mir, „und schauen Sie sich meinen Mitpassagier an. Er will nicht aufstehen.“
In der oberen Koje seiner Kabine lag ein Mann im Bett, mit hochgezogener Decke, sodass nur sein Hinterkopf zu sehen war.
„Warum steht er nicht auf?“ fragte ich.
Da grunzte der Mann von oben herab, ohne sich zu uns umzuwenden: „Ihr bringt mich nicht dazu, ein warmes Bett zu verlassen, um aufs kalte Deck zu gehen. Ich bleibe hier.“
Wir erklärten ihm lachend, er solle doch aufstehen und sich wenigstens anziehen. Aber er wollte nicht, und so kehrte ich zu meiner Kabine zurück, zog sicherheitshalber zusätzliche Unterwäsche an, setzte mich dann aufs Sofa und versuchte wieder, wie vorher schon einmal, zu lesen.
Da hörte ich durch die offene Tür eiliges Hin- und Herlaufen – und eine laute Stimme, die rief:
„Alle Passagiere mit angelegten Schwimmwesten an Deck!“
Lawerence Beesley: Der Untergang der Titanic (2)
Lawrence Beesley
The Loss of the SS. Titanic (2)
Der Untergang der Titanic - ein Augenzeugenbericht (Fortsetzung)
Ein wunderbares Gefühl der Sicherheit
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Ich steckte die beiden Bücher, die ich am Lesen war, in die Seitentasche meines Jacketts, ergriff die Schwimmweste, die in der Garderobe bereitlag, legte sie um und nahm auch den Morgenmantel mit. Als ich aus meiner Kabine trat, sah ich den Assistenten des Zahlmeisters, der mit bedeutungsvoller Miene dem Steward, der neben ihm stand, etwas zuflüsterte. Ich habe keinen Zweifel, dass er ihm berichtete, was im Bugbereich des Schiffes passiert war. Vielleicht gab er ihm auch die Anweisung weiter, die Passagiere zu wecken.
Während ich mich nun mit anderen Passagieren nach oben begab – niemand rannte oder schien beunruhigt, auch jetzt nicht -, traf ich auf zwei Damen, die mir entgegenkamen. Die eine fasste mich am Arm und sagte:
„Oh, ich finde meine Schwimmweste nicht. Würden Sie bitte in meine Kabine kommen und mir suchen helfen?“
Ich kehrte also mit ihnen zu den Kabinen zurück. Die Dame, die mich angesprochen hatte, hielt mich die ganze Zeit über in festem Griff – sehr zu meiner Freude -, und wir trafen einen Steward, der ihnen zeigte, wo die Schwimmwesten waren.
Auf dem oberen Deck waren schon viele Leute versammelt. Einige waren vollständig mit Mantel und Schal angekleidet und gut gerüstet für alle Dinge, die da kommen könnten. Andere hatten nur hastig ein Tuch umgeschlungen und daher nicht in sehr guter Verfassung, der kalten Nacht zu widerstehen.
Immerhin gab es keinen Wind, der durch unsere Kleidung blies. Auch die Luftbewegung, verursacht durch die Schiffsgeschwindigkeit, hatte aufgehört, denn die Maschinen waren wieder gestoppt worden, und die Titanic lag friedlich auf der Wasseroberfläche.
Die See war so ruhig wie ein Binnen-gewässer, bis auf kleine Wellen, die ein Schiff von solchen Ausmassen nicht zu bewegen vermochten. An Deck zu stehen, so hoch über dem Wasser, und den Blick in die nächtliche Ferne zu richten, vermittelte ein Gefühl wunderbarer Sicherheit – als würde man auf einem grossen Felsen mitten im Ozean stehen.
Dennoch gab es jetzt erste Anzeichen für die sich anbahnende Katastrophe. Hoch oben bei den Schornsteinen strömte mit grossem Lärm der Dampf aus den Überdruckventilen der Kessel: ein eindringlicher, dröhnender Ton, der Unterhaltungen schwierig machte und die ersten Passagiere in Furcht versetzte. Man stelle sich zwanzig Lokomotiven vor, die ihren Dampf in einer niedrigen Halle ablassen – so laut ungefähr war der ungemütliche Ton, der uns erwartete, als wir auf Deck hinaus traten.
Aber trotzdem war dies ein uns allen bekanntes Phänomen: Dampfmaschinen lassen Dampf ab, wenn sie zum Beispiel im Bahnhof stehen. Warum sollte nicht ein Schifff das gleiche tun dürfen, wenn es nicht fährt?
Ich übertreibe deshalb nicht, wenn ich sage, dass unter den Passagieren auf Deck nach wie vor keine Unruhe aufkam, kein Schreien, kein Jammern, kein Hin- und Hergerenne - obwohl wir noch immer nicht wussten, warum wir uns alle, mit Schwimmwesten bekleidet, mitten in der Nacht an Deck zu versammeln hatten.
"Die Männer treten von den Booten zurück!"
(10)
Die ganze Zeit über kamen weitere Passagiere die Treppen herauf und vergrösserten die Menschenmenge an Deck. Ich erinnere mich, dass ich daran dachte, in meine Kabine zurückzukehren, um einiges Geld an mich zu nehmen und warme Bekleidung zu holen, falls wir die Rettungsboote benutzen mussten. Aber als ich die heraufkommenden Leute bemerkte, entschied ich mich, das Gedränge auf den Treppen zu meiden und an Deck zu bleiben.
Inzwischen war es 0 Uhr 20. Wir alle, die anwesend waren, schauten der Besatzung zu, wie sie an den Rettungsbooten arbeitete. Da erschien ein Offizier vom Erstklasse-Deck und rief durch den Lärm des immer noch austretenden Dampfes:
„Alle Frauen und Kinder auf das Promenadendeck. Die Männer treten von den Booten zurück!“
Er war offensichtlich nicht in Dienst gewesen und deshalb gegen die Kälte nur leicht mit einem um den Hals gewickelten Halstuch geschützt. Auf sein Geheiss traten die Männer zurück, während sich die Frauen aufs untere Deck begaben, um von da aus in die Boote zu steigen. Zwei der Frauen protestierten zunächst gegen das Getrenntwerden von ihren Ehemännern, aber teils durch Überredung, teils mit leichter Gewalt, waren sie schliesslich bereit, voneinander zu scheiden.
Ich denke, dass uns zu dieser Zeit, als die Rettungsboote bereitgemacht wurden und es zur Trennung von Männern und Frauen kam, allmählich die Gefahr, die uns drohte, klar wurde. Das Verhalten der Menge auf unserem Deck jedoch blieb dasselbe. Alle waren bereit, Anweisungen zu empfangen und zu tun, was die Besatzung verlangte. Damit meine ich nicht, dass die Leute besonders vernünftig waren; doch sie alle hatten diesen angeborenen Respekt für Recht und Ordnung.
Wenn es aber noch welche gab, die die Gefahr nicht erkannten, so wurde nun jeder Zweifel in einer dramatischen Art und Weise ausgeräumt. Plötzlich erschien ein Licht vom vorderen Deck, ein ansteigendes Gebrüll, das uns herumfahren liess: Eine Rakete stieg aufwärts, dorthin, wo die Sterne zu uns herabblinkten.
Hoch flog sie, immer höher, begleitet von vielen aufschauenden Gesichtern; dann, eine Explosion, die die Stille der Nacht zu zerreissen schien, und eine Wolke von kleinen Sternen, die langsam niedersanken und nacheinander verlöschten.
Mit einem Aufseufzen entflog dies eine Wort den Lippen der Menge: „Raketen!“
Eine zweite folgte und eine dritte. Die dramatische Intensität der Szene war augenscheinlich. Stellen Sie sich die Dunkelheit vor – und nun das plötzliche Licht über uns. Die mächtigen Dimensionen des Schiffes, die Decks, die Menge der Menschen, aufragende Masten, die hohen Schornsteine – all dies für Sekunden erhellt und sichtbar, entblösst durch das Licht der Raketen. Jedermann wusste oder ahnte zumindest, was Raketen auf See bedeuten: Die Titanic rief um Hilfe."
"Sind noch Frauen an Deck?"
(11)
Die Besatzungen befanden sich nun in den Booten, die Seeleute standen an den Falltauen, und die Boote wurden aufs B-Deck hinuntergelassen, wo Frauen und Kinder über die Reling stiegen und in den Booten Platz nahmen. Waren sie voll besetzt, wurden sie ins Wasser hinunter gelassen, beginnend mit Boot Nummer 9 und weiter bis Nummer 15. All das konnten wir mitverfolgen, wenn wir von Steuerbord aus über die Kante des Bootsdecks hinuntersahen.
Während dies noch geschah, machte unter den Männern, die wie ich an Steuerbord standen, die Nachricht die Runde, dass auf der Backbordseite auch Männer in die Boote gelassen würden. Die Entstehung dieser Meldung konnte damit zusammenhängen, dass die Boote der Backbordseite noch nicht zu Wasser gelassen worden waren. Vielleicht wurde auch vermutet, dass auf der einen Seite die Frauen, auf der anderen die Männer einsteigen durften.
Egal, wie das Gerücht entstand – jedenfalls drängten nun die meisten Männer auf der Steuerbordseite hinüber nach Backbord. Nur zwei oder drei männliche Passagiere – unter ihnen auch ich – blieben zurück. Warum ich blieb, weiss ich nicht. Ich kann mich an keine Eingebung in meinem Bewusstsein erinnern, die mich veranlasst hätte, dazubleiben oder hinüberzugehen. Vielleicht anerkannte ich einfach die Notwendigkeit, in Ruhe abzuwarten und nur den offiziellen Weisungen Folge zu leisten.
Bald, nachdem die Männer die Steuerbordseite verlassen hatten, sah ich ein Mitglied der Musikkapelle, den Cellisten, um die Ecke aus dem Treppenhaus kommen und über das nun leere Steuerborddeck laufen, sein Cello nachlässig hinter sich herziehend, nicht darauf achtend, dass der Sporn des Cellos über den Boden kratzte. Das muss so gegen 0 Uhr 40 gewesen sein. Die Musik begann kurz danach aufzuspielen und spielte bis gegen 2 Uhr. Viele gute Taten wurden in dieser Nacht vollbracht, doch wohl keine wie diese: jenes letzte Konzert dieser Musiker, während das Schiff in die See versank.
Nach vorn und nach unten blickend, konnten wir nun schon recht viele Boote auf dem Wasser erkennen. Sie bewegten sich zunächst langsam der Bordwand entlang, ohne Hektik und ohne Lärm – um danach in der Dunkelheit zu verschwinden, sobald die Besatzung sich in die Riemen legte.
Jetzt ertönte von unten der Ruf: „Sind da noch Frauen?“
Als ich über die Deckskante sah, bemerkte ich Boot Nummer 13, auf der Höhe des B-Decks, zur Hälfte gefüllt mit Frauen, einigen männlichen Passagieren und der Besatzung. Das Boot schien noch nicht ganz voll, war aber soweit, dass es zu Wasser gelassen werden sollte.
Noch zweimal wurde der Ruf nach Frauen wiederholt – aber augenscheinlich wurden keine gefunden. Da blickte einer von der Crew zu mir herauf.
„Sind noch Frauen an Deck?“
„Nein“, antwortete ich.
„Dann sollten Sie jetzt besser springen“, forderte mich der Matrose auf.
Ich stieg auf die Deckskante, mit den Füssen nach aussen, warf meinen Übermantel ins Boot - und sprang nach.
Als ich mich aufrappelte und einen Platz gefunden hatte, hörte ich jemanden rufen: „Moment, da sind doch noch zwei Frauen!“
Diese wurden hastig über den Decksrand gestossen und taumelten in das Boot. „Fier weg!“ rief die Besatzung, doch bevor der Befehl ausgeführt werden konnte, tauchten plötzlich ein Mann mit seiner Frau und einem Baby auf. Die Mutter kam in die Mitte des Bootes, das Kind wurde ihr zugereicht, und der Vater plumpste im letzten Moment hinein, als das Boot bereits seinen Weg hinunter zum Wasser nahm.
"Wie lebendig sahen die Sterne aus"
(12)
Als das Rettungsboot, in dem sich Lawrence Beesley befindet, mit Glück das Wasser erreicht, legen sich die Ruderer in die Riemen und versuchen das Boot von der Titanic wegzubringen.
Die Besatzung, soweit ich dies erkennen konnte, bestand vor allem aus Stewards und Köchen: ihre weissen Jacken leuchteten in der Dunkelheit, während sie ruderten. Ich glaube nicht, dass sie irgendwelche Erfahrung im Rudern hatten, denn die Ruder kreuzten sich die ganze Zeit und schlugen gegeneinander. Diskussionen begannen, was wir tun und wohin wir rudern sollten, und niemand schien eine Ahnung zu haben. Zuletzt fragten wir: „Wer hat die Aufsicht in diesem Boot?“
Da sich niemand meldete, kamen wir überein, dass der Heizer am Heck, der die Ruderpinne führte, als Kapitän fungieren sollte. Von diesem Moment an bestimmte er den Kurs, rief andere Boote an und hielt Verbindung zu ihnen.
Während wir uns von der Titanic nun entfernten, sahen wir alle zurück und erlaubten uns einen Blick auf das mächtige Schiff. Es ragte trotz der Entfernung immer noch hoch über unserem Boot auf, und dies war ein absolut aussergewöhnlicher Anblick. Ich stelle fest, wie unvollkommen die Sprache ist, um zu beschreiben, was wir sahen.
Aber die Aufgabe muss angepackt werden. Zuerst einmal waren die Wetterbedingungen aussergewöhnlich. Die Nacht war eine der schönsten, die ich je erlebt hatte: der Himmel ohne eine einzige Wolke, die Sterne in vollkommener Klarheit und dicht zusammengedrängt. Jeder einzelne Stern schien in dieser reinen Atmosphäre frei zu sein von jeder Art von Schleier, so dass er zehnfach brillanter leuchtete, glitzerte und blinkte. Wie lebendig sahen die Sterne aus -als könnten sie sprechen.
Das vollständige Fehlen von Dunst verursachte ein Phänomen, das ich noch nie gesehen hatte. Dort, wo der Himmel die See berührte, war der Horizont so scharf ausgeprägt wie eine Messerklinge, so dass Wasser und Luft nicht allmählich verschmolzen. Jedes Element schien exklusiv getrennt vom andern, so dass auch ein tiefstehender Stern nichts von seiner Leuchtkraft einbüsste. Wenn sich die Erde weiterdrehte und die Wasserlinie emporwuchs, schnitt sie den Stern entzwei. Die obere Hälfte leuchtete immer noch weiter und schleuderte einen langen Lichtstrahl über die See – bis zu uns.
Der Kapitän eines der Schiffe, die sich in unserer Nähe befanden, sagte vor der Untersuchungskommission aus, die Sterne in jener Nacht hätten so aussergewöhnlich stark geleuchtet, dass er sich täuschen liess und annahm, es wären Lichter von Schiffen gewesen. Wir alle, die diese Sterne sahen, können ihm darin nur zustimmen.
Als nächstes die kalte Luft! Es gab nicht eine Spur von Wind um uns, als wir im Boot waren; und gerade dieses Fehlen jeglicher Luftbewegung erzeugte in uns das Gefühl der Kälte. Es war eine beissende, eisige, bewegungslose Kälte, die aus dem Nichts kam und die ganze Zeit über andauerte.
Schliesslich das Wasser, das uns umgab. Auch hier etwas Unbekanntes: die Oberfläche des Meeres war wie ein Ölsee, freundlich auf- und abschwingend mit einer langsamen Bewegung, die unser Boot hin- und herschaukelte. So still war das Meer, so ölig das Wasser, dass wir es nicht einmal an unsere Bordwände klatschen hörten. Als einer der Heizer erwähnte, dass er in 26 Jahren auf See nie eine so ruhige Nacht erlebt hätte, glaubten wir ihm sofort.
Unter diesen Bedingungen befanden wir uns Seite an Seite mit der Titanic auf eine immer noch kurze Distanz. Sie lag vollkommen ruhig. Es sah tatsächlich so aus, als ob der Stoss des Eisbergs ihr die ganze Kraft geraubt hätte – als müsste sie sich jetzt ausruhen und als könnte sie nichts mehr tun zu ihrer Rettung. Kein Wind fegte um ihre Aufbauten, und die ruhige See bewegte sie auch nicht. Dies war es, was uns am meisten betroffen machte: dieser Geist der Ruhe über der Titanic – und ihr langsames, teilnahmsloses Sinken ins Meer wie ein tödlich getroffenes Tier.
Im Rettungsboot
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Allein die Masse des Schiffes war, von unserem Boot aus betrachtet, ein einschüchternder Anblick. Man stelle sich die Titanic vor – eine sechstel Meile lang (fast 300m), 75 Fuss hoch bis zum Oberdeck (über 20m), mit vier grossen Schornsteinen über den Aufbauten, mit ihren Hunderten von Bullaugen, ihren Salons und anderen Räumen, in strahlendem Licht. Um sie herum all die Boote mit Passagieren, die noch wenige Stunden vorher auf den Schiffdecks herumspaziert waren, in den Bibliotheken gelesen und der Musik der Kapelle zugehört hatten. Jetzt sahen wir alle in höchster Verwunderung hinauf zu dieser enormen Masse über uns und ruderten fort von ihr.
Ich hatte mir oft gewünscht, die Titanic aus einiger Entfernung zu betrachten. Erst wenige Stunden vorher, während einer Unterhaltung mit einem Mitpassagier, hatte ich das Gelöbnis abgelegt, einen ausführlichen Blick auf ihre Linien und ihre Grösse zu werfen, wenn wir in New York gelandet sein würden. Ich hatte nicht ahnen können, dass die Gelegenheit dazu sich so schnell und unter solch dramatischen Umständen ergeben würde.
Noch eine Sache war anders als in der Wunschvorstellung – wobei uns diese Tatsache förmlich zerriss, als wir sie bemerkten. Die Schönheit der Nacht, das von den Sternen umgebene Schiff, die Schönheit seiner Komturen, die Schönheit der Lichter – dies alles, für sich allein betrachtet, war wunderbar. Um so schlimmer erschien uns der schreckliche Winkel, der durch die Wasseroberfläche und die Linie der Bullaugenlichter gebildet wurde. Eigentlich hätten die Wasserlinie und die Lichterlinie parallel zueinander stehen sollen. Doch nun trafen sie sich am Bug des Schiffes. Sonst gab es keinen sichtbaren Hinweis, dass es beschädigt war – mit Ausnahme dieser sichtbaren Verletzung eines einfachen geometrischen Gesetzes: dass zwei parallel verlaufende Linien niemals zusammenkommen.
Jetzt aber zeigte sich, dass die Titanic sank, weil die vordersten Bullaugenlichter bereits unter der Wasseroberfläche lagen – während die hintersten Lichter immer weiter nach oben ragten. Dieses beklemmende Bild hinter uns lassend, ruderten wir fort von der Titanic, hoffend und betend, dass sie nicht weiter sinken möge und das Tageslicht sie immer noch so antreffen würde, wie sie jetzt lag.
Die Heizer in unserem Boot hatten diese Illusion nicht. Einer von ihnen erzählte uns, wie er während seiner Wache vor seinem Feuerloch arbeitete. Ungefähr um 23 Uhr 45 – nach meiner Rechnung – hatte er in seiner Nähe eine Suppenschüssel bereitgestellt, um danach die Suppe zu essen. Plötzlich sei die ganze Wand seines Abschnitts eingebrochen, und das Wasser strömte um seine Füsse. Er rappelte sich auf und spurtete aus dem Raum. Die hereinbrechenden Wassermassen, schloss er seine Schilderung, hätten ihm deutlich genug gezeigt, was der Titanic blühte.
„Jetzt könnte ich die Suppe gebrauchen“, fügte er bei. In der Tat, denn seine Zähne klapperten wegen der Kälte. Eine Frau in seiner Nähe, die mit mehreren Mänteln warm angezogen war, versuchte ihm, einen der Mäntel zu geben. Er aber lehnte energisch ab, solange noch andere Frauen nicht ausreichend bekleidet wären. So wurde der Mantel zu einem irischen Mädchen mit rotbraunen Haaren gereicht, das nicht weniger schlotterte als der Heizer.
Gespräche gab es wenige unter uns. Eines allerdings möchte ich wiedergeben. Neben mir sass eine Mutter mit einem Baby, das nach ungefähr einer Stunde unruhig wurde und zu schreien begann.
„Würden Sie sich mal hinunterbeugen und nachsehen, ob seine Füsschen aus dem Tuch gucken?“ bat mich die Mutter. „Vielleicht hat es kalt.“
So gut ich konnte, tastete ich mit den Händen nach den Füsschen des Babys und wickelte sie in das Tuch. Das Baby beruhigte sich, und mir schien auf einmal, ich kenne die Stimme der Frau. „Sind Sie nicht -?“ fragte ich, und die Mutter antwortete: „Ja, und Sie müssen Mister Beesley sein, nicht wahr?“
Wir hatten uns in Queenstown kennengelernt, wo sie an Bord kam, und festgestellt, dass sie aus dem gleichen irischen Ort stammte wie ein Freund von mir. Sie schien ihn sogar zu kennen! Wir fanden beide, dass dies hier von allen Plätzen der Welt wohl der unvermutetste war, um sich über gemeinsame Freunde zu unterhalten. Denn wo befanden wir uns? In einem Rettungsboot in der Mitte des Ozeans - zwölfhundert Meilen von der Küste entfernt. Und hinter uns war der grösste Dampfer der Welt im Begriff, für immer im Meer zu versinken.
Plötzlich erloschen die Lichter
(14)
Die ganze Zeit über beobachteten wir, wie die Titanic vorne tiefer und tiefer sank. Immer steiler wurde der Winkel zur Wasserfläche; immer mehr hoben sich die Lichter der Bullaugen im Heck des Schiffes – während die Lichter vorne im Bug unter Wasser verschwanden. Es bestand kein Zweifel, dass sich die Titanic nicht mehr lange halten konnte.
Inzwischen war es 2 Uhr morgens, eineinhalb Stunden befanden wir uns schon auf dem Wasser – doch das schwer beladene Boot, die ungeübten Ruderer, der ungleichmässige Kurs, mal dem einen Licht, mal dem anderen folgend, dem Leuchten eines Sterns, dem Licht eines anderen Bootes - dies alles trug dazu bei, dass die Entfernung zur Titanic noch immer nicht gross war.
Der Heizer, der das Kommando hatte, trieb die Ruderer an, fortzurudern, so schnell sie konnten. Der durch das Sinken des Schiffes entstehende Sog, so befürchteten wir, könnte das Boot zum Kentern bringen. Auch die Welle, die durch das Sinken ausgelöst würde, konnte uns Schaden zufügen. Also legten sich die Männer am Ruder mit aller Kraft in die Riemen.
Inzwischen erreichte das Wasser die Positionslichter des Schiffes und die Kommandobrücke. Es sah so aus, als würde die Titanic innert der nächsten Minuten versinken. Die Ruderer hielten inne, und wir alle im Rettungsboot blickten über das schwarze Wasser hinüber zum Schiff, dessen Lichter – soweit sie noch über Wasser standen – erstaunlicherweise immer noch leuchteten.
Und dann, während die meisten von uns voller Ehrfurcht starrten, richtete sich die Titanic langsam auf, drehte sich um ihren Schwerpunkt, bis sie eine fast senkrechte Lage einnahm – und verharrte bewegungslos. Die Lichter waren nun plötzlich erloschen. In diesem Augenblick gab es einen Lärm, den viele Überlebende fälschlicherweise als Explosion beschrieben. Aus meiner Sicht jedoch war es nichts anderes als das Abstürzen der Maschinen aus ihrer Verankerung in die Tiefe des Schiffes. Sie krachten durch die Wände nach unten zum Bug, alles in ihrem Weg zerschlagend, sich gegenseitig zerstörend, mit einem Röhren, Ächzen und Krachen, das vielleicht 20 Sekunden anhielt.
Es war ein Lärm wie ein Gewitterdonner, und niemand, der ihn hörte, wird sich wünschen, ihn je wieder zu hören. Wie dieses Krachen über das Wasser zu uns kam, war überwältigend. Als es aufgehört hatte, stand die Titanic aufrecht wie ein Komma, nur ihr Heck war noch sichtbar. In dieser Position blieb sie für ein paar unglaublich lange Minuten. Dann glitt sie langsam nach unten und tauchte schräg abwärts. Die See schloss sich über ihr, und das wundervollste je von Menschenhand geschaffene Schiff war verschwunden.
An seiner Stelle erstreckte sich nun der Ozean mit seiner grenzenlosen dunklen Weite bis zum Horizont. In uns entstand ein starkes Gefühl von Einsamkeit, so allein gelassen auf See. Wir fühlten uns ausgeliefert dem weiten Meer – und der Welle, von der wir annahmen, dass sie nun kommen müsste. Jene Welle, von der die Mannschaft noch eben gesprochen hatte, jene Riesenwelle, die das gesunkene Schiff hervorrufen würde.
Sie kam nicht. Wir dümpelten weiter dahin, auf der unheimlich ruhigen See, und hatten nichts zu befürchten.
Doch obwohl die Titanic uns nicht mehr in Gefahr bringen konnte, hinterliess sie uns etwas, das ich gerne für immer vergessen würde: die Schreie. Die Schreie der vielen hundert Mitpassagiere, die im eisigkalten Wasser um ihr Leben kämpften.
Ich wollte zunächst jede Erinnerung an diesen Aspekt des Unglücks in meinem Bericht weglassen. Aber aus zwei Gründen ist das nicht möglich: einerseits um der Wahrheit willen, und zweitens, weil diese Schreie nicht nur ein Ruf nach Hilfe waren, sondern ein Appell - ein Appell an die ganze Welt, nie wieder so etwas zuzulassen, ein Aufschrei zum Himmel.
Wir waren äusserst überrascht, diese Schreie zu hören, denn wir wussten nicht, wieviele Passagiere Aufnahme in die Boote gefunden hatten. Es hätte uns nicht erstaunt, zu erfahren, dass alle einen Platz fanden und gerettet wurden. Nun aber wurde uns klar, was diese Schreie, die übers Wasser zu uns herüberhallten, bedeuteten. Sie lösten eine unsinnige Reaktion bei uns aus. Wir versuchten zurückzurudern, um die Ertrinkenden noch zu retten – obwohl es unmöglich war. Das Boot war vollbeladen bis zu den Stehplätzen; umzukehren und Menschen aufzunehmen, hätte bedeutet, uns alle der Gefahr des Kenterns auszusetzen.
Endlich befahl der Heizer der Mannschaft, von den Schreien fortzurudern. Wir versuchten verzweifelt zu singen, um nicht an sie zu denken, aber in dieser Situation hatten wir keine Kraft in unseren Herzen.
Allmählich erstarben die Hilferufe, einer nach dem andern. Ich denke, die letzten waren noch etwa 40 Minuten nach dem Sinken des Schiffes zu hören. Die Kälte des Wassers brachte sie zum Verstummen, und über dem Grab der Titanic wurde es still.
Die Rettung
Das Rettungsboot Nr. 13, in dem sich auch Lawrence Beesley befindet, entfernt sich weiter von der Unglücksstelle der Titanic, die um 2 Uhr 20 gesunken ist. Ziellos fahren die Schiffbrüchigen durch die dunkle Nacht. In der Nähe befinden sich drei weitere Boote, die Nummern 9, 11 und 15. Man verständigt sich durch gegenseitiges Zurufen, sieht sich aber im Dunkeln nicht. Über eine Lichtquelle verfügt keines der Boote.
Nach einer Stunde etwa erscheint ein schwacher, kurz aufleuchtender Lichtschein am Horizont. Die Besatzung ist überzeugt: Dies war eine Rakete. Ein Schiff, das durch die SOS-Rufe der Titanic zu Hilfe gerufen wurde, kündigt den Überlebenden seinen Standort an.
Mit angespannten Nerven, die Augen über den Horizont gleiten lassend, die Ohren geöffnet für den leisesten Laut, warteten wir in der absoluten Stille dieser ruhigen Nacht. Und dann kroch ein Licht über die See – an der gleichen Stelle wie vorher -, und diesmal war es ein Licht, das blieb. Sogleich teilte es sich in mehrere Lichter. Sie kamen rasch auf uns zu, und es waren zweifellos die Lichter eines Schiffes.
Das Schiff gelangte bald in unsere Nähe. Als es seine Fahrt stoppte und eindrehte, offenbarte es sich als grosser Dampfer mit vollständig erleuchteten Bullaugen. Diese Lichter waren bestimmt einer der wundervollsten Anblicke im Leben eines jeden von uns. Sie bedeuteten, dass wir gerettet waren. Das schien uns zu schön, um wahr zu sein, und ich denke, so manche Augen füllten sich mit Tränen, männliche ebenso wie weibliche, als wir die Lichterreihen uns gegenüber sahen.
Unser Boot nahm Kurs auf den Dampfer. Der als Kapitän bestimmte Heizer schlug Lieder vor und begann mit „Rudert zur Küste, Matrosen“. Die Besatzung nahm den Gesang zitternd auf, die Passagiere fielen mit ein, aber ich glaube, es war noch zu früh, die Dankbarkeit war zu tief, wir konnten nicht singen.
Und dann, um unsere Freude vollkommen zu machen, begann die Dämmerung. Zunächst nur ein wunderbarer leichter Schimmer im Osten, dann ein sanftes goldenes Glühen, welches sich, heimlich beinahe, über die See stahl und lautlos ausbreitete. Dann wandelte sich der Himmel schwach rosafarbig, und als nächstes erstarben die Sterne, langsam – bis auf einen, den Morgenstern. Nahe dabei, mit dem unteren Ende gerade noch die Kimm berührend, der schmale und bleiche Mond.
Mit der Dämmerung kam eine schwache Brise von Westen auf, und wir spürten den ersten Windzug seit vielen Stunden. Später dann entwickelte sich die Brise zu einem kräftigen Wind, der die See aufwühlte, so dass die letzten mit Menschen beladenen Boote eine angstvolle Partie in den hüpfenden Wellen vor sich hatten, bis sie das rettende Schiff erreichten.
Im schwachen Licht in Richtung des Dampfers blickend, meinten wir, zwei grosse, vollgetakelte Segelschiffe zu erkennen, alle Segel gesetzt. Doch dann erwiesen sich die Segelschiffe - als Eisberge. Mächtige Eisberge, aufgetürmt in einer Weise, dass sie tatsächlich ein Schiff vorgaukelten. Mit dem Erscheinen der Sonne wechselten die Eisberge ihre Farbe nach rosa. Sie sahen unheilvoll aus; doch ebenso fürchterlich wie das, was einer von ihnen angerichtet hatte, war ihre Schönheit. Später, als die Sonne höher über den Horizont stieg, funkelten und glitzerten sie in grosser Pracht. Es waren unzählige, und alle waren sie unterschiedlich in Form, Aussehen und Farbe, jenachdem, wie die Sonnenstrahlen auf sie fielen.
Inzwischen hatten wir den Dampfer erreicht. Einige andere Boote lagen schon an seiner Seite, und Gerettete kletterten über Leitern hinauf. Nachdem wir einen Eisberg, der uns den Weg versperrte, umfahren hatten, konnten wir auch den Namen des Schiffes lesen: CARPATHIA – ein Name, den wir so leicht nicht vergessen werden. Jedesmal, wenn er uns wieder begegnet, wird die Erinnerung an unsere Rettung schlagartig zurückkehren, und wir werden erneut dieselbe Dankbarkeit empfinden für das, was die CARPATHIA uns in jenen Morgenstunden bedeutet hat.
Wir erreichten das Schiff rudernd um 4 Uhr 30 an seiner Backbordseite. Die Frauen gingen zuerst die Strickleitern hinauf, männliche Passagiere folgten, die Besatzungsmitglieder kamen zuletzt. Das Baby, das bei uns war, schwebte in einer offenen Tasche aufwärts. Es ging ihm gut, trotz seiner kalten Reise durch die Nacht.
Die Passagiere der CARPATHIA säumten die Reling und sahen auf uns herab. Sie standen ruhig dabei, als die Besatzung uns an der Gangway unten an Bord nahm, und beobachteten uns. Einige meinten später, wir seien sehr ruhig gewesen, als wir an Bord kamen. Das ist wirklich wahr – aber sie waren es auch.
Es gab wenig Erregung auf beiden Seiten; nur das ruhige Erdulden von Menschen, die noch immer unter einem Eindruck stehen, der zu mächtig für ihre geistige Auffassung ist und den sie auch heute noch nicht begreifen. Die Passagiere fragten uns höflich, ob wir heissen Kaffee wünschten. Wir nahmen ihn dankend an.
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