Gedichte, die bleiben
Die Magie der Verse
Wenn Romane wie Länder sind und Erzählungen wie Landschaften - dann müssen Gedichte wie Blumen sein. Ich liebe Gedichte, und ich denke, es hat seinen Grund, warum sie heute so selten sind und warum sie sich nicht mehr reimen. Moderne Texte haben keine Magie mehr. Das war einmal anders. In den guten alten Gedichten ist eine Kraft enthalten, die uns seltsam verzaubert.
Besonders gefallen mir die Gedichte von Erich Kästner. In ihnen verbindet sich die Dichtkunst mit Alltagsnähe - und grosser Menschenliebe.
Gustav Schwabs Ritt über den Bodensee
Gustav Schwab
Der Reiter und der Bodensee
Der Reiter reitet durchs helle Tal,
Auf Schneefeld schimmert der Sonne Strahl.
Er trabet im Schweiß durch den kalten Schnee,
Er will noch heut an den Bodensee;
Noch heut mit dem Pferd in den sichern Kahn,
Will drüben landen vor Nacht noch an.
Auf schlimmem Weg, über Dorn und Stein,
Er braust auf rüstigem Roß feldein.
Aus den Bergen heraus, ins ebene Land,
Da sieht er den Schnee sich dehnen wie Sand.
Weit hinter ihm schwinden Dorf und Stadt,
Der Weg wird eben, die Bahn wird glatt.
In weiter Fläche kein Bühl, kein Haus,
Die Bäume gingen, die Felsen aus;
So flieget er hin eine Meil, und zwei,
Er hört in den Lüften der Schneegans Schrei;
Es flattert das Wasserhuhn empor,
Nicht anderen Laut vernimmt sein Ohr;
Keinen Wandersmann sein Auge schaut,
Der ihm den rechten Pfad vertraut.
Fort geht's, wie auf Samt, auf dem weichen Schnee,
Wann rauscht das Wasser, wann glänzt der See?
Da bricht der Abend, der frühe, herein:
Von Lichtern blinket ein ferner Schein.
Es hebt aus dem Nebel sich Baum an Baum,
Und Hügel schließen den weiten Raum.
Er spürt auf dem Boden Stein und Dorn,
Dem Rosse gibt er den scharfen Sporn.
Und Hunde bellen empor am Pferd,
Und es winkt im Dorf ihm der warme Herd.
»Willkommen am Fenster, Mägdelein,
An den See, an den See, wie weit mag's sein?«
Die Maid, sie staunet den Reiter an:
»Der See liegt hinter dir und der Kahn.
Und deckt' ihn die Rinde von Eis nicht zu,
Ich spräch, aus dem Nachen stiegest du.«
Der Fremde schaudert, er atmet schwer:
»Dort hinten die Ebne, die ritt ich her!«
Da recket die Magd die Arm in die Höh:
»Herr Gott! so rittest du über den See!
An den Schlund, an die Tiefe bodenlos,
Hat gepocht des rasenden Hufes Stoß!
Und unter dir zürnten die Wasser nicht?
Nicht krachte hinunter die Rinde dicht?
Und du wardst nicht die Speise der stummen Brut,
Der hungrigen Hecht in der kalten Flut?«
Sie rufet das Dorf herbei zu der Mär,
Es stellen die Knaben sich um ihn her.
Die Mütter, die Greise, sie sammeln sich:
»Glückseliger Mann, ja, segne du dich!
Herein, zum Ofen, zum dampfenden Tisch,
Brich mit uns das Brot und iß vom Fisch!«
Der Reiter erstarret auf seinem Pferd,
Er hat nur das erste Wort gehört.
Es stocket sein Herz, es sträubt sich sein Haar,
Dicht hinter ihm grinst noch die grause Gefahr.
Es siehet sein Blick nur den gräßlichen Schlund,
Sein Geist versinkt in den schwarzen Grund.
Im Ohr ihm donnert's, wie krachend Eis,
Wie die Well umrieselt ihn kalter Schweiß.
Da seufzt er, da sinkt er vom Roß herab,
Da ward ihm am Ufer ein trocken Grab.
Historisch überliefert ist, dass am 5. Januar 1573 der Elsässer Postvogt Andreas Egglisperger mit seinem Ross den zugeforenen Bodensee nach Überlingen überquerte. Dieses Ereignis inspirierte den schwäbischen Dichter Gustav Schwab (1792-1850) zu seiner Ballade.
zum AnfangRainer Maria Rilke über die Liebe
Rainer Maria Rilke
Liebes-Lied
Wie soll ich meine Seele halten,
dass sie nicht an deine rührt?
Wie soll ich sie
hinheben über dich zu andern Dingen?
Ach gerne möcht ich sie bei irgendwas
Verlorenem im Dunkel unterbringen
an einer fremden stillen Stelle, die
nicht weiterschwingt, wenn deine Tiefen schwingen.
Doch alles, was uns anrührt,
dich und mich,
nimmt uns zusammen
wie ein Bogenstrich,
der aus zwei Saiten
eine Stimme zieht.
Auf welches Instrument
sind wir gespannt?
Und welcher Geiger hat uns
in der Hand?
O süsses Lied.
Der deutsche Dichter Rainer Maria Rilke lebte von 1875-1926.
"Liebes-Lied" entstand 1907 auf Capri.
Detlev von Liliencron: Sommerliebe
Detlev von Liliencron
Einen Sommer lang
Zwischen Roggenfeld und Hecken
Führt ein schmaler Gang;
Süßes, seliges Verstecken
Einen Sommer lang.
Wenn wir uns von ferne sehen,
Zögert sie den Schritt,
Rupft ein Hälmchen sich im Gehen,
Nimmt ein Blättchen mit.
Hat mit Ähren sich das Mieder
Unschuldig geschmückt,
Sich den Hut verlegen nieder
In die Stirn gedrückt.
Schüchtern kommt sie langsam näher,
Färbt sich rot wie Mohn;
Doch ich bin ein feiner Späher,
Kenn die Schelmin schon.
Noch ein Blick in Weg und Weite,
Ruhig liegt die Welt,
Und es hat an ihre Seite
Mich der Sturm gestellt.
Zwischen Roggenfeld und Hecken
Führt ein schmaler Gang;
Süßes, seliges Verstecken
Einen Sommer lang.
Der deutsche Dichter Detlev von Liliencron lebte von 1844-1909.
zum AnfangAnnette von Droste-Hülshoffs Moorgedicht
Annette von Droste-Hülsoff
Der Knabe im Moor
O schaurig ist's übers Moor zu gehn,
Wenn es wimmelt vom Heiderauche,
Sich wie Phantome die Dünste drehn
Und die Ranke häkelt am Strauche,
Unter jedem Tritte ein Quellchen springt,
Wenn aus der Spalte es zischt und singt,
O schaurig ist's, übers Moor zu gehn,
Wenn das Röhricht knistert im Hauche!
Fest hält die Fibel das zitternde Kind
Und rennt, als ob man es jage;
Hohl über die Fläche sauset der Wind —
Was raschelt drüben am Hage?
Das ist der gespenstige Gräberknecht,
Der dem Meister die besten Torfe verzecht;
Hu, hu, es bricht wie ein irres Rind!
Hinducket das Knäblein zage.
Vom Ufer starret Gestumpf hervor,
Unheimlich nicket die Föhre,
Der Knabe rennt, gespannt das Ohr,
Durch Riesenhalme wie Speere;
Und wie es rieselt und knittert darin!
Das ist die unselige Spinnerin,
Das ist die gebannte Spinnlenor',
Die den Haspel dreht im Geröhre!
Voran, voran! nur immer im Lauf,
Voran, als woll' es ihn holen!
Vor seinem Fuße brodelt es auf,
Es pfeift ihm unter den Sohlen
Wie eine gespenstige Melodei;
Das ist der Geigenmann ungetreu,
Das ist der diebische Fiedler Knauf,
Der den Hochzeitheller gestohlen!
Da birst das Moor, ein Seufzer geht
Hervor aus der klaffenden Höhle;
Weh, weh, da ruft die verdammte Margret:
»Ho, ho, meine arme Seele!«
Der Knabe springt wie ein wundes Reh;
Wär' nicht Schutzengel in seiner Näh',
Seine bleichenden Knöchelchen fände spät
Ein Gräber im Moorgeschwele.
Da mählich gründet der Boden sich,
Und drüben, neben der Weide,
Die Lampe flimmert so heimatlich,
Der Knabe steht an der Scheide.
Tief atmet er auf, zum Moor zurück
Noch immer wirft er den scheuen Blick:
Ja, im Geröhre war's fürchterlich,
O schaurig war's in der Heide!
Das wohl bekannteste Gedicht der süddeutschen Dichterin, die von 1797-1848 lebte, die letzten 7 Jahre auf Schloss Meersburg am Bodensee.
Erich Kästner: Mann und Frau
Erich Kästner
Eine unverstandene Frau
Er band vorm Spiegel stehend die Krawatte.
Da sagte sie (und blickte an die Wand):
"Soll ich den Traum erzählen, den ich hatte ?
Ich hielt im Traum ein Messer in der Hand.
Ich hob es hoch, mich in den Arm zu stechen,
und schnitt hinein, als sei der Arm aus Brot.
Du warst dabei, wir wagten nicht zu sprechen.
Und meine Hände wurden langsam rot.
Das Blut floß lautlos in die Teppichranken.
Ich hatte Angst und hoffte auf ein Wort.
Ich sah dich an, du standest in Gedanken.
Dann sagtest du: 'Das Messer ist ja fort.'
Du bücktest dich, doch war es nicht zu finden.
Ich rief: 'So hilf mir endlich!' Aber du,
du meintest nur: 'Man müsste dich verbinden',
und schautest mir wie einem Schauspiel zu.
Mir war so kalt, als sollte ich erfrieren.
Du standest da mit traurigem Gesicht
und wolltest rasch dem Arzt telefonieren
und Rettung holen. Doch du tatst es nicht.
Dann nahmst du Hut und Mantel um zu gehen,
und sprachst: 'Jetzt muss ich aber ins Büro!'
und gingst hinaus. Und ich blieb blutend stehn.
Ich starb im Traum. Und war darüber froh..."
Er band vorm Spiegel stehend die Krawatte.
Und sah im Spiegel, dass sie nicht mehr sprach.
Und als er sich den Schlips gebunden hatte,
griff er zum Kamm. Und zog den Scheitel nach.
Der deutsche Dichter Erich Kästner lebte von 1899-1974. Das Gedicht stammt aus dem Band "Ein Mann gibt Auskunft", erstmals erschienen 1930.
Apostel Paulus über die Liebe
Paulus
Das Hohelied der Liebe
Wenn ich mit Menschen- und mit Engelszungen redete und hätte der Liebe nicht, so wäre
ich ein tönendes Erz oder eine klingende Schelle.
Und wenn ich prophetisch reden könnte und wüsste alle Geheimnisse und alle Erkenntnis und
hätte allen Glauben, so dass ich Berge versetzen könnte, - und hätte der Liebe nicht, so wäre
ich nichts.
Und wenn ich alle meine Habe den Armen gäbe und ließe meinen Leib verbrennen, und hätte
die Liebe nicht, so wäre mir´s nichts nütze.
Die Liebe ist langmütig und freundlich,
die Liebe eifert nicht,
die Liebe treibt nicht Mutwillen,
sie bläht sich nicht auf,
sie verhält sich nicht ungehörig,
sie sucht nicht das Ihre,
sie lässt sich nicht erbittern,
sie rechnet das Böse nicht zu,
sie freut sich nicht über die Ungerechtigkeit,
sie freut sich aber an der Wahrheit,
sie erträgt alles, sie glaubt alles, sie hofft alles, sie duldet alles.
Die Liebe hört niemals auf, wo doch das prophetische Reden aufhören wird, und das
Zungenreden aufhören wird und die Erkenntnis aufhören wird. Denn unser Wissen ist
Stückwerk, und unser prophetisches Reden ist Stückwerk. Wenn aber kommen wird das
Vollkommene, so wird das Stückwerk aufhören.
Als ich ein Kind war, da redete ich wie ein Kind und dachte wie ein Kind und war klug wie ein Kind; als ich aber ein Mann wurde, tat ich ab, was kindlich war.
Wir sehen jetzt durch einen Spiegel ein dunkles Bild; dann aber von Angesicht zu Angesicht.
Jetzt erkenne ich stückweise: dann aber werde ich erkennen, wie ich erkannt bin.
So aber bleiben Glaube, Hoffnung, Liebe, diese drei. Aber die Liebe ist die größte unter ihnen.
Aus der Bibel - Erster Brief des Paulus an die Korinther
zum AnfangHans Sachs: Wo Milch und Honig fliessen
Hans Sachs
Das Schlaraffenland
Die Gegend heißt Schlaraffenland,
den faulen Leuten wohlbekannt;
sie liegt drei Meilen hinter Weihnachten.
Ein Mensch, der dahinein will trachten,
muß sich des großen Dings vermessen
und durch einen Berg von Hirsebrei essen;
der ist wohl dreier Meilen dick;
alsdann ist er im Augenblick
im selbigen Schlaraffenland.
Da hat er Speis und Trank zur Hand;
da sind die Häuser gedeckt mit Fladen,
mit Lebkuchen Tür und Fensterladen.
Um jedes Haus geht rings ein Zaun,
geflochten aus Bratwürsten braun;
vom besten Weine sind die Bronnen,
kommen einem selbst ins Maul geronnen.
An den Tannen hängen süße Krapfen
wie hierzulande die Tannenzapfen;
auf Weidenbäumen Semmeln stehn,
unten Bäche von Milch hergehn;
in diese fallen sie hinab,
daß jedermann zu essen hab.
Auch schwimmen Fische in den Lachen,
gesotten, gebraten, gesalzen, gebacken;
die gehen bei dem Gestad so nahe,
daß man sie mit den Händen fahe.
Auch fliegen um, das mögt ihr glauben,
gebratene Hühner, Gäns' und Tauben;
wer sie nicht fängt und ist so faul,
dem fliegen sie selbst in das Maul.
Die Schweine, fett und wohlgeraten,
laufen im Lande umher gebraten.
Jedes hat ein Messer im Rück';
damit schneid't man sich ab ein Stück
und steckt das Messer wieder hinein.
Käse liegen umher wie die Stein.
Ganz bequem haben's die Bauern;
sie wachsen auf Bäumen, an den Mauern;
sind sie zeitig, so fallen sie ab,
jeder in ein Paar Stiefel herab.
Auch ist ein Jungbrunn in dem Land;
mit dem ist es also bewandt:
wer da häßlich ist oder alt,
der badet sich jung und wohlgestalt.
Bei den Leuten sind allein gelitten
mühelose, bequeme Sitten.
So zum Ziel schießen die Gäst',
wer am meisten fehlt, gewinnt das Best;
im Laufe gewinnt der Letzte allein;
das Schlafrocktragen ist allgemein.
Auch ist im Lande gut Geld gewinnen:
wer Tag und Nacht schläft darinnen,
dem gibt man für die Stund' einen Gulden;
wer wacker und fleißig ist, macht Schulden.
Dem, welcher da sein Geld verspielt,
man alles zwiefach gleich vergilt,
und wer seine Schuld nicht gern bezahlt,
auch wenn sie wär eines Jahres alt,
dem muß der andere doppelt geben.
Der, welcher liebt ein lustig Leben,
kriegt für den Trunk einen Batzen Lohn;
für eine große Lüge gibt man eine Kron'.
Verstand darf man nicht lassen sehn,
aller Vernunft muß man müßig gehn;
wer Sinn und Witz gebrauchen wollt,
dem wär kein Mensch im Lande hold.
Wer Zucht und Ehrbarkeit hätt lieb,
denselben man des Lands vertrieb,
und wer arbeitet mit der Hand,
dem verböt man das Schlaraffenland.
Wer unnütz ist, sich nichts läßt lehren,
der kommt im Land zu großen Ehren,
und wer der Faulste wird erkannt,
derselbige ist König im Land.
Wer wüst, wild und unsinnig ist,
grob, unverständig zu aller Frist,
aus dem macht man im Land einen Fürsten.
Wer gern ficht mit Leberwürsten,
aus dem ein Ritter wird gemacht,
und wer auf gar nichts weiter acht't
als auf Essen, Trinken und Schlafen,
aus dem macht man im Land einen Grafen.
Wer also lebt wie obgenannt,
der ist gut im Schlaraffenland,
in einem andern aber nicht.
Drum ist ein Spiegel dies Gedicht,
darin du sehest dein Angesicht.
Der deutsche Spruchdichter, Meistersinger und Stückeschreiber Hans Sachs lebte von 1494-1576 in Nürnberg
Ds Vreneli ab em Guggisbärg
Schweizer Volkslied
s Guggisberg-Lied
S isch äben e Mönsch uf Ärde - Simelibärg!
- Und ds Vreneli ab em Guggisbärg
und ds Simes Hans-Joggeli änet dem Bärg -
's isch äben e Mönsch uf Ärde,
dass i möcht bi-n-ihm si.
Und mah-n-er mir nit wärde,
vor Chummer stirben-i.
U stirben-i vor Chummer,
so leit me mi i ds Grab.
I mines Büelis Garte
da stah zweu Bäumeli.
Das eini treit Muschgate,
das andri Nägeli.
Muschgate, die si süessi
und d'Nägeli si räss,
I gab's mim Lieb z' versueche,
dass 's miner nit vergäss.
Ha di no nie vergässe,
ha immer a di dänkt.
Es si numeh zweu Jahre,
dass mi han a di ghänkt.
Dört unden i der Tiefi,
da steit es Mülirad.
Das mahlet nüt as Liebi,
die Nacht und auch den Tag.
Das Mühlirad isch broche,
mys Lyde het en Änd.
Das Guggisberg-Lied ist wohl das älteste Schweizer Volkslied. Es wurde erstmals 1741 erwähnt. Das traurige Lied basiert vermutlich auf einer wahren Handlung aus den Jahren zwischen 1660 und 1670. Es handelt von einem Vreneli aus Guggisberg, ihrem Auserwählten aus schlechteren Verhältnissen und seinem Nebenbuhler von einem besserem Hof. Die beiden Männer haben eine Schlägerei. Weil der Simes Hans-Joggeli glaubt, den Nebenbuhler getötet zu haben, flieht er und tritt, wie damals üblich, in fremde Kriegsdienste ein.
Als er nach Jahren vernimmt, dass sein Gegner doch überlebt hat, kehrt er nach Hause zurück - doch ist sein Vreneli aus Kummer inzwischen gestorben.
Den Schweizer Söldnern in fremden Kriegsdiensten war es verboten, das Lied zu singen, da es das Heimweh, früher auch die "Schweizerkrankheit" genannt, förderte.
zum AnfangWilhelm Busch: Zwei Schwestern
Wilhelm Busch
Die beiden Schwestern
Es waren mal zwei Schwestern,
Ich weiß es noch wie gestern.
Die eine namens Adelheid
War faul und voller Eitelkeit.
Die andre, die hieß Kätchen
Und war ein gutes Mädchen,
Sie quält sich ab von früh bis spät,
Wenn Adelheid spazierengeht.
Die Adelheid trank roten Wein,
Dem Kätchen schenkt sie Wasser ein.
Einst war dem Kätchen anbefohlen,
Im Walde dürres Holz zu holen.
Da saß an einem Wasser
Ein Frosch, ein grüner, nasser;
Der quakte ganz unsäglich
Gottsjämmerlich und kläglich
"Erbarme dich, erbarme dich,
Ach, küsse und umarme mich!"
Das Kätchen denkt: Ich will's nur tun,
Sonst kann der arme Frosch nicht ruhn!
Der erste Kuß schmeckt recht abscheulich.
Der gräsiggrüne Frosch wird bläulich.
Der zweite schmeckt schon etwas besser;
Der Frosch wird bunt und immer größer.
Beim dritten gibt es ein Getöse,
Als ob man die Kanonen löse.
Ein hohes Schloß steigt aus dem Moor,
Ein schöner Prinz steht vor dem Tor.
Er spricht: "Lieb Kätchen, du allein
Sollst meine Herzprinzessin sein!"
Nun ist das Kätchen hochbeglückt,
Kriegt Kleider schön mit Gold gestickt
Und trinkt mit ihrem Prinzgemahl
Aus einem goldenen Pokal.
Indessen ist die Adelheid
In ihrem neusten Sonntagskleid
Herumspaziert an einem Weiher,
Da saß ein Knabe mit der Leier.
Die Leier klang, der Knabe sang:
"Ich liebe dich, bin treu gesinnt,
Komm, küsse mich, du hübsches Kind!"
Kaum küßt sie ihn,
So wird er grün,
So wird er struppig,
Eiskalt und schuppig.
Und ist - o Schreck! -
Der alte kalte Wasserneck.
"Ha!" lacht er. "Diese hätten wir!"
Und fährt bis auf den Grund mit ihr.
Da sitzt sie nun bei Wasserratzen,
Muß Wassernickels Glatze kratzen,
Trägt einen Rock von rauhen Binsen,
Kriegt jeden Mittag Wasserlinsen;
Und wenn sie etwas trinken muß,
Ist Wasser da im Überfluß.
Der deutsche Dichter Wilhelm Busch lebte von 1832-1908.
"Die beiden Schwestern" entstand 1881.
Eduard Mörike: Sehet ihr am Fensterlein?
Eduard Mörike
Der Feuerreiter
Sehet ihr am Fensterlein
Dort die rote Mütze wieder?
Nicht geheuer muß es sein,
Denn er geht schon auf und nieder.
Und auf einmal welch Gewühle
Bei der Brücke, nach dem Feld!
Horch! das Feuerglöcklein gellt:
Hinterm Berg,
Hinterm Berg
Brennt es in der Mühle!
Schaut! da sprengt er wütend schier
Durch das Tor, der Feuerreiter,
Auf dem rippendürren Tier,
Als auf einer Feuerleiter!
Querfeldein! Durch Qualm und Schwüle
Rennt er schon und ist am Ort!
Drüben schallt es fort und fort:
Hinterm Berg,
Hinterm Berg
Brennt es in der Mühle!
Der so oft den roten Hahn
Meilenweit von fern gerochen,
Mit des heilgen Kreuzes Span
Freventlich die Glut besprochen -
Weh! dir grinst vom Dachgestühle
Dort der Feind im Höllenschein.
Gnade Gott der Seele dein!
Hinterm Berg,
Hinterm Berg
Rast er in der Mühle!
Keine Stunde hielt es an,
Bis die Mühle borst in Trümmer;
Doch den kecken Reitersmann
Sah man von der Stunde nimmer.
Volk und Wagen im Gewühle!
Kehren heim von all dem Graus;
Auch das Glöcklein klinget aus:
Hinterm Berg,
Hinterm Berg
Brennts! -
Nach der Zeit ein Müller fand
Ein Gerippe samt der Mützen
Aufrecht an der Kellerwand
Auf der beinern Mähre sitzen:
Feuerreiter, wie so kühle
Reitest du in deinem Grab!
Husch! da fällts in Asche ab.
Ruhe wohl,
Ruhe wohl
Drunten in der Mühle!
Der deutsche Dichter Eduard Mörike lebte von 1804-1875
zum AnfangErich Kästner: Ein Blickwechsel
Erich Kästner
Ein Beispiel von ewiger Liebe
Im gelben Autobus ging's durch den Ort.
Schnell hinein. Schnell heraus.
Erstes Haus. Letztes Haus.
Fort.
Hab ich den Namen vergessen?
Ob ich ihn überhaupt las?
Es war eine Kleinstadt in Hessen,
zwischen Reben und Gras.
Du standest am Gartenrand,
als du mich plötzlich erblicktest.
Zärtlich hob ich die Hand.
Du nicktest.
Darf ich nicht Du zu dir sagen?
Es war keine Zeit dazu,
lang um Erlaubnis zu fragen.
So sag ich du.
Ich wünschte so sehnlich,
ich stünde bei dir.
Ging dir's nicht ähnlich?
Ging dir's wie mir?
Der Zufall hat keinen Verstand.
Es heißt, er sei blind.
Er gab und entzog uns hastig die Hand,
wie ein ängstliches Kind.
Ich bin entschlossen, fest daran zu glauben,
daß du die Richtige gewesen wärst.
Du kannst mir diese Illusion nicht rauben,
da du sie nicht erfährst.
Du lehntest lächelnd am grünen Staket.
Es war im Taunus. Es war in Hessen.
Ich habe den Namen des Orts vergessen.
Die Liebe besteht.
Erschienen in "Gesang zwischen den Stühlen" (1932).
Erich Kästner lebte von 1899-1974
Bertolt Brechts Seeräuberballade
Bertolt Brecht
Die Ballade von den Seeräubern
Von Branntwein toll und Finsternissen!
Von unerhörten Güssen naß!
Vom Frost eiskalter Nacht zerrissen!
Im Mastkorb, von Gesichten blaß!
Von Sonne nackt gebrannt und krank!
(Die hatten sie im Winter lieb)
Aus Hunger, Fieber und Gestank
Sang alles, was noch übrig blieb:
Oh Himmel, strahlender Azur!
Enormer Wind die Segel bläh!
Laßt Wind und Himmel fahren! Nur
Laßt uns um Sankt Marie die See!
Kein Weizenfeld mit milden Winden
Selbst keine Schenke mit Musik
Kein Tanz mit Weibern und Absinthen
Kein Kartenspiel hielt sie zurück.
Sie hatten vor dem Knall das Zanken
Vor Mitternacht die Weiber satt:
Sie lieben nur verfaulte Planken
Ihr Schiff, das keine Heimat hat.
Oh Himmel, strahlender Azur!
Enormer Wind die Segel bläh!
Laßt Wind und Himmel fahren! Nur
Laßt uns um Sankt Marie die See!
Mit seinen Ratten, seinen Löchern
Mit seiner Pest, mit Haut und Haar
Sie fluchten wüst darauf beim Bechern
Und liebten es, so wie es war.
Sie knoten sich mit ihren Haaren
Im Sturm in seinem Mastwerk fest:
Sie würden nur zum Himmel fahren
Wenn man dort Schiffe fahren läßt.
Oh Himmel, strahlender Azur!
Enormer Wind die Segel bläh!
Laßt Wind und Himmel fahren! Nur
Laßt uns um Sankt Marie die See!
Sie häufen Seide, schöne Steine
Und Gold in ihr verfaultes Holz
Sie sind auf die geraubten Weine
In ihren wüsten Mägen stolz.
Um dürren Leib riecht toter Dschunken
Seide glühbunt nach Prozession
Doch sie zerstechen sich betrunken
Im Zank um einen Lampion.
Oh Himmel, strahlender Azur!
Enormer Wind die Segel bläh!
Laßt Wind und Himmel fahren! Nur
Laßt uns um Sankt Marie die See!
Sie morden kalt und ohne Hassen
Was ihnen in die Zähne springt
Sie würgen Gurgeln so gelassen
Wie man ein Tau ins Mastwerk schlingt.
Sie trinken Sprit bei Leichenwachen
Nachts torkeln trunken sie in See
Und die, die übrig bleiben, lachen
Und winken mit der kleinen Zeh:
Oh Himmel, strahlender Azur!
Enormer Wind die Segel bläh!
Laßt Wind und Himmel fahren! Nur
Laßt uns um Sankt Marie die See!
Vor violetten Horizonten
Still unter bleichem Mond im Eis
Bei schwarzer Nacht in Frühjahrsmonden
Wo keiner von dem andern weiß
Sie lauern wolfgleich in den Sparren
Und treiben funkeläugig Mord
Und singen um nicht zu erstarren
Wie Kinder, trommelnd im Abort:
Oh Himmel, strahlender Azur!
Enormer Wind die Segel bläh!
Laßt Wind und Himmel fahren! Nur
Laßt uns um Sankt Marie die See!
Sie tragen ihren Bauch zum Fressen
Auf fremde Schiffe wie nach Haus
Und strecken selig im Vergessen
Ihn auf die fremden Frauen aus.
Sie leben schön wie noble Tiere
Im weichen Wind, im trunknen Blau!
Und oft besteigen sieben Stiere
Eine geraubte fremde Frau
Oh Himmel, strahlender Azur!
Enormer Wind die Segel bläh!
Laßt Wind und Himmel fahren! Nur
Laßt uns um Sankt Marie die See!
Wenn man viel Tanz in müden Beinen
Und Sprit in satten Bäuchen hat
Mag Mond und zugleich Sonne scheinen:
Man hat Gesang und Messer satt.
Die hellen Sternennächte schaukeln
Sie mit Musik in süße Ruh
Und mit geblähten Segeln gaukeln
Sie unbekannten Meeren zu.
Oh Himmel, strahlender Azur!
Enormer Wind die Segel bläh!
Laßt Wind und Himmel fahren! Nur
Laßt uns um Sankt Marie die See!
Doch eines Abends im Aprile
Der keine Sterne für sie hat
Hat sie das Meer in aller Stille
Auf einmal plötzlich selber satt.
Der große Himmel, den sie lieben
Hüllt still in Rauch die Sternensicht
Und die geliebten Winde schieben
Die Wolken in das milde Licht.
Oh Himmel, strahlender Azur!
Enormer Wind die Segel bläh!
Laßt Wind und Himmel fahren! Nur
Laßt uns um Sankt Marie die See!
Der leichte Wind des Mittags fächelt
Sie anfangs spielend in die Nacht
Und der Azur des Abends lächelt
Noch einmal über schwarzem Schacht.
Sie fühlen noch, wie voll Erbarmen
Das Meer mit ihnen heute wacht
Dann nimmt der Wind sie in die Arme
Und tötet sie vor Mitternacht.
Oh Himmel, strahlender Azur!
Enormer Wind die Segel bläh!
Laßt Wind und Himmel fahren! Nur
Laßt uns um Sankt Marie die See!
Noch einmal schmeißt die letzte Welle
Zum Himmel das verfluchte Schiff
Und da, in ihrer letzten Helle
Erkennen sie das große Riff.
Und ganz zuletzt in höchsten Masten
War es, weil Sturm so gar laut schrie
Als ob sie, die zur Hölle rasten
Noch einmal sangen, laut wie nie:
Oh Himmel, strahlender Azur!
Enormer Wind die Segel bläh!
Laßt Wind und Himmel fahren! Nur
Laßt uns um Sankt Marie die See!
Wilhelm Busch: Die Liebe eines Schmetterlings
Wilhelm Busch
Ein verliebter Schmetterling
Sie war ein Blümlein hübsch und fein,
Hell aufgeblüht im Sonnenschein.
Er war ein junger Schmetterling,
Der selig an der Blume hing.
Oft kam ein Bienlein mit Gebrumm
Und nascht und säuselt da herum.
Oft kroch ein Käfer kribbelkrab'
Am hübschen Blümlein auf und ab.
Ach Gott, wie das dem Schmetterling
So schmerzlich durch die Seele ging.
Doch was am meisten ihn entsetzt,
Das Allerschlimmste kam zuletzt.
Ein alter Esel fraß die ganze
Von ihm so heißgeliebte Pflanze.
Der deutsche Dichter, Zeichner & Maler Wilhelm Busch lebte vom 15. April 1832 - 9. Januar 1908.
Das Gedicht über den Schmetterling entstand 1883.
Erich Kästner: Es gibt schönere Hände...
Erich Kästner
Hinweis auf die Hände einer Waschfrau
Es gibt berühmtere Hände,
und schönere gibt es auch.
Die Hände, die Sie hier sehen,
sind für den Hausgebrauch.
Sie kennen nicht Lack noch Feile.
Sie spielten noch nie Klavier.
Sie sind nicht zum Vergnügen,
sondern zum Waschen hier.
Sie waschen nicht nur einander,
sie waschen mit grossem Fleiss
Die Wäsche die andere trugen, mühselig wieder weiss.
Sie duften nicht nach Lavendel. sondern nach Lauge und Chlor.
Sie wringen und rumpeln und schuften und fürchten sich nicht davor.
Sie wurden rot und rissig.
Sie wurden fühllos und rauh.
Und wenn sie jemanden streicheln... dann streicheln sie ungenau.
Der deutsche Schriftsteller Erich Kästner lebte von 1899-1974. Das Gedicht über die Waschfrau erschien erstmals 1936 - zunächst in der Schweiz. In Deutschland hatte Kästner Schreibverbot.
zum AnfangChristian Morgenstern: Um des Reimes willen
Christian Morgenstern
Das Wiesel
Ein Wiesel
sass auf einem Kiesel
inmitten Bachgeriesel.
Wisst ihr
weshalb?
Das Mondkalb
verriet es mir
im Stillen:
Das raffinierte Tier
tat's um des Reimes willen.
Aus den "Galgenliedern" des deutschen Dichters Christian Morgenstern (1871-1914)
zum AnfangBertolt Brecht: Lao-tse und der Zöllner
Bertolt Brecht
Legende vom Zöllner
Als er siebzig war und schon gebrechlich,
Drängte es den Lehrer doch nach Ruh’,
Denn die Weisheit war im Lande schwächlich
Und die Bosheit nahm an Kräften zu
Und er gürtete den Schuh.
Und er packte ein, was er so brauchte:
Wenig. Doch es wurde dies und das.
So die Pfeife, die er abends immer rauchte,
Und das Büchlein, das er immer las.
Weissbrot nach dem Augenmass.
Freute sich des Tals noch einmal
und vergass es,
als er ins Gebirg den Weg einschlug.
Und sein Ochse freute sich des frischen Grases
Kauend, während er den Alten trug.
Denn dem ging es schnell genug.
Doch am vierten Tag im Felsgesteine
Hat ein Zöllner ihm den Weg verwehrt:
„Kostbarkeiten zu verzollen?” „Keine.”
Und der Knabe, der den Ochsen führte, sprach:
„Er hat gelehrt.”
Und so war auch das erklärt.
Doch der Mann in einer heit’ren Regung
Fragte noch: „Hat er was rausgekriegt?”
Sprach der Knabe: „Dass das weiche Wasser in Bewegung
Mit der Zeit den Stein besiegt.
Du verstehst: Dass das Harte unterliegt.”
Dass er nicht das letzte Tageslicht verlöre,
Trieb der Knabe nun den Ochsen an.
Und die drei verschwanden schon
um eine Föhre.
Da kam plötzlich Fahrt in unsern Mann.
Und er schrie: „He, du! Halt an!”
„Was ist das mit diesem Wasser, Alter?”
Hielt der Alte: „Interessiert es dich?”
Sprach der Mann: „Ich bin nur Zollverwalter,
Doch wer wen besiegt, das interessiert auch mich.
Wenn du’s weisst, dann sprich!"
Schreib mir’s auf. Diktier es diesem Kinde!
So was nimmt man doch nicht mit sich fort.
Da gibt’s doch Papier bei uns und und Tinte
Und ein Nachtmahl gibt es auch: Ich wohne dort.
Nun, ist das ein Wort?”
Eine höfliche Bitte abzuschlagen
War der Alte, wie es schien, zu alt.
Denn er sagte laut: „Die etwas fragen,
Die verdienen Antwort.” Sprach der Knabe: „Es wird auch schon kalt.”
„Gut, ein kleiner Aufenthalt.”
Und von seinem Ochsen stieg der Weise,
Sieben Tage schrieben sie zu zweit.
Und der Zöllner brachte Essen
(und er fluchte nur noch leise
Mit den Schmugglern in der ganzen Zeit).
Und dann war’s so weit.
Und dem Zöllner händigte der Knabe
Eines Morgens einundachtzig Sprüche ein
Und mit Dank für eine kleine Reisegabe
Bogen sie um jene Föhre ins Gestein.
Sagt jetzt: Kann man höflicher sein?
Aber rühmen wir nicht nur den Weisen,
Dessen Name auf dem Büchlein prangt!
Denn man muß dem Weisen seine Weisheit erst entreissen.
Darum sei der Zöllner auch bedankt:
Er hat sie ihm abverlangt.
Der deutsche Dichter Bertolt Brecht lebte von 1898-1956. Er war sehr politisch - für meine Begriffe zu politisch -, doch sein Werk enthält unzählige philosophische Gleichnisse von grosser Kraft.
Die Legende von Lao tse schrieb Brecht im dänischen Exil 1938.
zum AnfangHermann Hesse: Unter der heiteren Fläche
Hermann Hesse
Doch heimlich dürsten wir
Anmutig, geistig, arabeskenzart
Scheint unser Leben sich wie das von Feen
In sanften Tänzen um das Nichts zu drehen,
Dem wir geopfert Sein und Gegenwart.
Schönheit der Träume, holde Spielerei,
So hingehaucht, so reinlich abgestimmt,
Tief unter deiner heiteren Fläche glimmt
Sehnsucht nach Nacht,
nach Blut, nach Barbarei.
Im Leeren dreht sich, ohne Zwang und Not,
Frei unser Leben, stets zum Spiel bereit,
Doch heimlich dürsten wir nach Wirklichkeit,
Nach Zeugung und Geburt -
nach Leid und Tod.
Ein Gedicht, das die heutige Zeit noch mehr trifft als die Zeit, in der es entstand. Wir leben unser modernes Leben - doch heimlich dürsten wir...
Der deutsche Dichter Hermann Hesse - der viele Jahre in der Schweiz, vor allem im Tessin verbrachte - lebte von 1877-1962. Das Gedicht stammt aus seinem Buch "Das Glasperlenspiel"(1932).
zum AnfangRainer Maria Rilke: Herr, es ist Zeit
Rainer Maria Rilke
Herbsttag
Herr: es ist Zeit. Der Sommer war sehr groß.
Leg deinen Schatten auf die Sonnenuhren,
und auf den Fluren laß die Winde los.
Befiehl den letzten Früchten voll zu sein;
gieb ihnen noch zwei südlichere Tage,
dränge sie zur Vollendung hin und jage
die letzte Süße in den schweren Wein.
Wer jetzt kein Haus hat, baut sich keines mehr.
Wer jetzt allein ist, wird es lange bleiben,
wird wachen, lesen, lange Briefe schreiben
und wird in den Alleen hin und her
unruhig wandern, wenn die Blätter treiben.
Erich Kästner: Alles, was man damals sah
Erich Kästner
Man müsste wieder sechzehn sein
Man müßte wieder sechzehn Jahre sein
Und alles, was seitdem geschah, vergessen.
Man müßte wieder seltne Blumen pressen
Und - weil man wächst - sich an der Türe messen
Und auf dem Schulweg in die Tore schrein.
Man müßte wieder nachts am Fenster stehn
Und auf die Stimmen der Passanten hören,
wenn sie den leisen Schlaf der Straßen stören.
Man müßte sich, wenn einer lügt, empören
Und ihm fünf Tage aus dem Wege gehen.
Man müßte wieder durch den Stadtpark laufen.
Mit einem Mädchen, das nach Hause muß
Und küssen will und Angst hat vor dem Kuß.
Man müßte ihr und sich, vor Ladenschluß,
für zwei Mark fünfzig ein Paar Ringe kaufen.
Man würde seiner Mutter wieder schmeicheln,
weil man zum Jahrmarkt ein paar Groschen braucht.
Man sähe dann den Mann, der lange taucht.
Und einen Affen, der Zigarre raucht.
Und ließe sich von Riesendamen streicheln.
Man ließe sich von einer Frau verführen
Und dächte stets: „Das ist Herr Nußbaums Braut.“
Man spürte ihre Hände auf der Haut.
Das Herz im Leibe schlüge hart und laut,
als schlügen nachts im Elternhaus die Türen.
Man sähe alles, was man damals sah.
Und alles, was seit jener Zeit geschah,
das würde nun zum zweitenmal geschehen...
Dieselben Bilder willst du wiedersehn?
Das zeitlos schöne Gedicht von Erich Kästner heisst im Original "Die Existenz im Wiederholungsfalle". Aber wie bei manchen Gedichten von ihm finde ich den Titel etwas unglücklich gewählt. Auch die letzte Zeile habe ich weggelassen. Auf die Frage, ob man die Bilder von damals, als man jung war, wiedersehen wolle, antwortet Kästner entschieden mit "Ja!"
Ich möchte die Antwort offenlassen.
Marie Luise Kaschnitz: Heute sah ich wieder dich
Marie Luise Kaschnitz
Am Strande
Heute sah ich wieder dich am Strand
Schaum der Wellen dir zu Füssen trieb
Mit dem Finger grubst du in den Sand
Zeichen ein, von denen keines blieb.
Ganz versunken warst du in dein Spiel
Mit der ewigen Vergänglichkeit
Welle kam und Stern und Kreis zerfiel
Welle ging und du warst neu bereit.
Lachend hast du dich zu mir gewandt
Ahntest nicht den Schmerz, den ich erfuhr
Denn die schönste Welle zog zum Strand
Und sie löschte deiner Füße Spur.
Marie Luise Kaschnitz lebte von 1901-1974
zum AnfangErich Kästner: An besonders schönen Tagen
Erich Kästner
Im Auto über Land
An besonders schönen Tagen
ist der Himmel sozusagen
wie aus blauem Porzellan.
Und die Federwolken gleichen
weißen, zart getuschten Zeichen,
wie wir sie auf Schalen sahn.
Alle Welt fühlt sich gehoben,
blinzelt glücklich schräg nach oben
und bewundert die Natur.
Vater ruft, direkt verwegen:
"'n Wetter, glatt zum Eierlegen!"
(Na, er renommiert wohl nur.)
Und er steuert ohne Fehler
über Hügel und durch Täler.
Tante Paula wird es schlecht.
Doch die übrige Verwandtschaft
blickt begeistert in die Landschaft.
Und der Landschaft ist es recht.
Um den Kopf weht eine Brise
von besonnter Luft und Wiese,
dividiert durch viel Benzin.
Onkel Theobald berichtet,
was er alles sieht und sichtet.
Doch man sieht's auch ohne ihn.
Den Gesang nach Kräften pflegend
und sich rhythmisch fortbewegend
strömt die Menschheit durchs Revier.
Immer rascher jagt der Wagen.
Und wir hören Vater sagen:
"Dauernd Wald, und nirgends Bier."
Aber schließlich hilft sein Suchen.
Er kriegt Bier. Wir kriegen Kuchen.
Und das Auto ruht sich aus.
Tante schimpft auf die Gehälter.
Und allmählich wird es kälter.
Und dann fahren wir nach Haus
Das wohl bekannteste Gedicht von Erich Kästner war in sämtlichen Schulbüchern abgedruckt. Auch ich habe es auswendig lernen müssen - aber es gefiel mir schon damals. Besonders natürlich die Zeile: "...Und der Landschaft ist es recht." Ein Satz, der soviel enthält - soviel Wahrheit über die Menschen und die Natur.
zum AnfangErich Kästner: Das Gebirge wollte seine Ruh
Erich Kästner
Maskenball im Hochgebirge
Eines schönen Abends wurden alle
Gäste des Hotels verrückt, und sie
rannten schlagerbrüllend aus der Halle
in die Dunkelheit und fuhren Ski.
Und sie sausten über weiße Hänge.
Und der Vollmond wurde förmlich fahl.
Und er zog sich staunend in die Länge.
So etwas sah er zum erstenmal.
Manche Frauen trugen nichts als Flitter.
Andre Frauen waren in Trikots.
Ein Fabrikdirektor kam als Ritter.
Und der Helm war ihm zwei Kopf zu groß.
Sieben Rehe starben auf der Stelle.
Diese armen Tiere traf der Schlag.
Möglich, daß es an der Jazzkapelle –
denn auch die war mitgefahren – lag.
Die Umgebung glich gefrornen Betten.
Auf die Abendkleider fiel der Reif.
Zähne klapperten wie Kastagnetten.
Frau von Cottas Brüste wurden steif.
Das Gebirge machte böse Miene.
Das Gebirge wollte seine Ruh.
Und mit einer mittleren Lawine
deckte es die blöde Bande zu.
Dieser Vorgang ist ganz leicht erklärlich.
Der Natur riß einfach die Geduld.
Andre Gründe hierfür gibt es schwerlich.
Den Verkehrsverein trifft keine Schuld.
Man begrub die kalten Herrn und Damen.
Und auch etwas Gutes war dabei:
für die Gäste, die am Mittwoch kamen,
wurden endlich ein paar Zimmer frei.
1930 erschien dieses Gedicht von Erich Kästner - eines seiner bekanntesten.
zum AnfangMatthias Claudius: Der Winter ist ein rechter Mann
Matthias Claudius
Winter
Der Winter ist ein rechter Mann,
kernfest und zäh von Dauer;
sein Fleisch fühlt sich wie Eisen an.
Er scheut nicht süss noch sauer.
Wenn Stein und Bein vor Frost zerbricht
und Teich und Seen krachen;
das klingt ihm gut, das hasst er nicht,
dann will er sich totlachen.
Sein Schloss von Eis liegt ganz hinaus
beim Nordpol an dem Strande;
doch hat er auch ein Sommerhaus
im lieben Schweizerlande.
Da ist er denn bald dort bald hier,
gut Regiment zu führen,
und wenn er durchzieht, stehn wir
und sehn ihn an und frieren.
Der deutsche Dichter Matthias Claudius lebte von 1740-1815
zum AnfangBerthold Brechts Weihnachtsgedicht
Bertolt Brecht
Die gute Nacht
Der Tag, vor dem der große Christ
zur Welt geboren worden ist,
war hart und wüst und ohne Vernunft.
Seine Eltern, ohne Unterkunft,
fürchteten sich vor seiner Geburt,
die gegen Abend erwartet wurd,
denn seine Geburt fiel in die kalte Zeit.
Aber sie verlief zur Zufriedenheit.
Der Stall, den sie doch noch gefunden hatten,
war warm und mit Moos zwischen seinen Latten,
und mit Kreide war auf die Tür gemalt,
daß der Stall bewohnt war und bezahlt.
So wurde es doch noch eine gute Nacht,
auch das Heu war wärmer, als sie gedacht.
Ochs und Esel waren dabei,
damit alles in der Ordnung sei.
Eine Krippe gab einen kleinen Tisch,
und der Hausknecht brachte heimlich einen Fisch,
denn es mußte bei der Geburt des großen Christ
alles heimlich gehen und mit List.
Und der Fisch war ausgezeichnet
und reichte durchaus,
und Maria lachte ihren Mann
wegen seiner Besorgnis aus.
Am Abend legte sich noch der Wind,
war nicht mehr so kalt,
wie die Winde sonst sind.
Bei Nacht war er fast wie ein Föhn,
und der Stall war warm
und das Kind sehr schön.
Es fehlte schon fast gar nichts mehr,
da kamen auch schon die Dreikönig daher!
Maria und Joseph waren zufrieden sehr.
Sie legten sich sehr zufrieden zum Ruhn:
Mehr konnte die Welt für den Christ nicht tun.
Bertold Brecht, deutscher Dichter & Dramatiker, lebte von 1898-1956. Seine Weltanschauung ist nicht die meine - er blieb bis zu seinem Tod Kommunist -, aber sein Weihnachtsgedicht gehört zu den Werken von ihm, die mich nicht gleichgültig lassen. Besonders der letzte Satz geht mir nicht mehr aus dem Sinn.
zum AnfangRainer Maria Rilke: Im Winterwalde
Rainer Maria Rilke
Es treibt der Wind
Es treibt der Wind im Winterwalde
die Flockenherde wie ein Hirt
und manche Tanne ahnt, wie balde
sie fromm und lichterheilig wird
und lauscht hinaus.
Den weißen Wegen
streckt sie die Zweige hin, bereit
und wehrt dem Wind
und wächst entgegen
der einen Nacht der Herrlichkeit.
Rainer Maria Rilke lebte von 1875 bis 1926, und seine Gedichte berühren mich nicht nur, ihre Schönheit erfüllt mich mit Ehrfurcht. Oft verstehe ich gar nicht alles. Aber ich spüre, dass es wahr ist.
zum AnfangErich Kästner: Nachts sind die Strassen so leer
Erich Kästner
Herbstnacht
Nachts sind die Strassen so leer.
Nur ganz mitunter
markiert ein Auto Verkehr.
Ein Rudel bunter
raschelnder Blätter jagt hinterher.
Die Blätter haschen und hetzen.
Und doch weht kein Wind.
Sie rascheln wie Fetzen und hetzen
und folgen geheimen Gesetzen,
obwohl sie gestorben sind.
Nachts sind die Straßen so leer.
Die Lampen brennen nicht mehr.
Man geht und möchte nicht stören.
Man könnte das Gras wachsen hören,
wenn Gras auf den Straßen wär.
Der Himmel ist kalt und weit.
Auf der Milchstraße hat's geschneit.
Man hört seine Schritte wandern,
als wären es Schritte von andern,
und geht mit sich selber zu zweit.
Nachts sind die Straßen so leer.
Die Menschen legen sich nieder.
Nun schlafen sie, treu und bieder.
Und morgen fallen sie wieder
übereinander her.
(1932)
zum AnfangOh wie sy d'Gletscher so root!
Josef Anton Henne
Lueget, vo Bärg und Tal
Lueget, vo Bärg und Tal,
flieht scho der Sunnestrahl;
lueget, uf Aue und Matte
wachse die dunkele Schatte.
D'Sunn uf de Bärge no stoht
Oh wie sy d'Gletscher so root!
Oh wie sy d'Gletscher so root!
Lueget, da obe am See
heime zue wändet si 's Veh;
loset wie d'Glogge, die schöne,
fründlich vom Moos us ertöne.
Chüjerglüt, üseri Luscht,
Tuet is so wohl i der Bruscht.
Tuet is so wohl i der Bruscht.
Still a de Bärge wird's Nacht,
aber der Herrgott, dä wacht.
Gseht er das Stärnli dört schyne?
Stärnli, wie bisch du so fryne,
Gseht er, am Näbel dört stohts
Stärnli, Gott grüess di, wie gohts?
Stärnli, Gott grüess di, wie gohts?
Loset, es seit is: "Gar guet!
Het my nid Gott i der Huet?
Fryli, der Vatter vo allne
laat is gwüss wäger nid falle.
Vatter im Himmel, dä wacht."
Stärnli, liebs Stärnli, guet Nacht!
Stärnli, liebs Stärnli, guet Nacht!
Verfasst 1823 von Josef Anton Henne, Lehrer in Hofwil bei Bern
An einem goldenen Herbsttag habe ich auf der Holzegg unterhalb des Grossen Mythen in der dortigen Kapelle eine Abschiedsfeier gestaltet. Die Kinder und Enkel der Verstorbenen - einer 83jährigen Frau - sangen unter anderem dieses Lied.Ich kenne das Lied, seit ich ein Kind bin. Aber ich wusste nicht, wie schön es ist.
zum AnfangWilhelm Busch: Maikäfer liebt er ungemein
Wilhelm Busch
Der Spatz
Ich bin ein armer Schreiber nur,
hab' weder Haus noch Acker,
doch freut mich jede Kreatur,
sogar der Spatz, der Racker.
Er baut von Federn, Haar und Stroh
sein Nest geschwind und flüchtig.
Er denkt, die Sache geht schon so,
die Schönheit ist nicht wichtig.
Wenn man den Hühnern Futter streut,
gleich mengt er sich dazwischen,
um schlau und voller Rührigkeit
sein Körnlein zu erwischen.
Maikäfer liebt er ungemein,
er weiss sie zu behandeln;
er hackt die Flügel, zwackt das Bein
und knackt sie auf wie Mandeln.
Im Kirschenbaum frisst er verschmitzt
das Fleisch der Beeren gerne;
dann hat, wer diesen Baum besitzt,
nachher die schönsten Kerne.
Es fällt ein Schuss. Der Spatz entfleucht
und ordnet sein Gefieder.
Für heute bleibt er weg vielleicht,
doch morgen kommt er wieder.
Und ist es Winterzeit und hat's
geschneit auf alle Dächer -
verhungern tut kein rechter Spatz.
Er kennt im Dach die Löcher.
Ich rief: "Spatz, komm, ich füttre dich!"
Er fasst mich scharf ins Auge.
Und scheint zu glauben, dass auch ich
im Grunde nicht viel tauge.
Hat jemals ein Dichter dem kommunen Spatz ein schöneres und würdigeres Denkmal gesetzt?
Wilhelm Busch (1832-1908) verfasste das Gedicht 1904.
Erich Kästner: Wer wagt es?
Erich Kästner
Eine Mutfrage
Wer wagt es,
sich den donnernden Zügen
entgegenzustellen?
Die kleinen Blumen
zwischen den Eisenbahnschwellen!
(1950)
zum AnfangFriedrich Schiller: Sie brachte Blumen mit
Friedrich Schiller
Das Mädchen aus der Fremde
In einem Tal bei armen Hirten
Erschien mit jedem jungen Jahr,
Sobald die ersten Lerchen schwirrten,
Ein Mädchen, schön und wunderbar.
Sie war nicht in dem Tal geboren,
Man wußte nicht, woher sie kam;
Und schnell war ihre Spur verloren,
Sobald das Mädchen Abschied nahm.
Beseligend war ihre Nähe,
Und alle Herzen wurden weit;
Doch eine Würde, eine Höhe
Entfernte die Vertraulichkeit.
Sie brachte Blumen mit und Früchte,
Gereift auf einer andern Flur,
In einem andern Sonnenlichte,
In einer glücklichern Natur.
Und teilte jedem eine Gabe,
Dem Früchte, jenem Blumen aus;
Der Jüngling und der Greis am Stabe,
Ein jeder ging beschenkt nach Haus.
Willkommen waren alle Gäste;
Doch nahte sich ein liebend Paar,
Dem reichte sie der Gaben beste,
Der Blumen allerschönste dar.
Erich Kästner: Christian Leberecht Schnabel
Erich Kästner
Die Fabel von Schnabels Gabel
Kennen Sie Christian Leberecht Schnabel?
Ich hab' ihn gekannt.
Vor seiner Zeit gab es die vierzinkige,
die dreizinkige
und auch schon die zweizinkige Gabel.
Doch jener Christian Leberecht Schnabel,
das war der Mann,
der in schlaflosen Nächten
die einzinkige Gabel erfand.
Das Einfachste ist immer das Schwerste.
Die einzinkige Gabel
lag seit Jahrhunderten auf der Hand.
Aber Christian Leberecht Schnabel
war der erste,
der sie erfand!
Die Menschen sind wie die Kinder.
Christian Leberecht Schnabel
teilte mit seiner Gabel
das Schicksal aller Erfinder.
Die einzinkige Gabel
- wurde Schnabel
erklärt -
sei nichts wert!
Sie entbehre als Teil des Bestecks
jeden praktischen Zwecks.
Man könne, sagte man Schnabel,
mit seiner Gabel nicht gabeln.
Die Menschen glaubten tatsächlich,
dass Schnabel
etwas Konkretes bezweckte,
als er die einzinkige Gabel
damals entdeckte.
Ha!
Ihm ging es um nichts Reelles.
(Und deshalb ging es ihm schlecht.)
Ihm ging es um Prinzipielles!
Und insofern hatte Schnabel
mit der von ihm erfundenen Gabel
natürlich recht.
(1930)
Rainer Maria Rilke: Ich fürchte mich vor des Menschen Wort
Rainer Maria Rilke
Die Dinge singen hör' ich so gern
Ich fürchte mich so vor der Menschen Wort.
Sie sprechen alles so deutlich aus:
und dieses heisst Hund und jenes heisst Haus,
und hier ist Beginn und Ende ist dort.
Mich bangt auch ihr Sinn, ihr Spiel mit dem Spott,
sie wissen alles, was wird und war;
kein Berg ist ihnen mehr wunderbar;
ihr Garten und Gut grenzt grade an Gott.
Ich will immer warnen und wehren: Bleibt fern.
Die Dinge singen hör ich so gern.
Ihr rührt sie an: Sie sind starr und stumm.
Ihr bringt mir alle die Dinge um.
Erich Kästner: Am Himmel tanzen Aeroplane
Erich Kästner
Besagter Lenz ist da
Es ist schon so. Der Frühling kommt in Gang.
Die Bäume räkeln sich. Die Fenster staunen.
Die Luft ist weich, als wäre sie aus Daunen.
Und alles andre ist nicht von Belang.
Nun brauchen alle Hunde eine Braut.
Und Pony Hütchen sagte mir, sie fände:
Die Sonne habe kleine, warme Hände
und krabble ihr mit diesen auf der Haut.
Die Hausmannsleute stehen stolz vorm Haus.
Man sitzt schon wieder auf Caféterrassen
und friert nicht mehr und kann sich sehen lassen.
Wer kleine Kinder hat, der fährt sie aus.
Sehr viele Fräuleins haben schwache Knie.
Und in den Adern rollt’s wie süsse Sahne.
Am Himmel tanzen blanke Aeroplane.
Man ist vergnügt dabei. Und weiss nicht wie.
Man sollte wieder mal spazierengehn.
Das Blau und Grün und Rot war ganz verblichen.
Der Lenz ist da! Die Welt wird frisch gestrichen!
Die Menschen lächeln, bis sie sich verstehn.
Die Seelen laufen Stelzen durch die Stadt.
Auf dem Balkon stehn Männer ohne Westen
und säen Kresse in den Blumenkästen.
Wohl dem, der solche Blumenkästen hat.
Die Gärten sind nur noch zum Scheine kahl.
Die Sonne heizt und nimmt am Winter Rache.
Es ist zwar jedes Jahr dieselbe Sache,
und doch ist’s immer wie zum erstenmal.
(1928)
zum AnfangRainer Maria Rilke: Dann geht ein Bild hinein
Rainer Maria Rilke
Der Panther
Sein Blick ist im Vorübergehn der Stäbe
so müd geworden, dass er nichts mehr hält.
Ihm ist, als ob es tausend Stäbe gäbe
und hinter tausend Stäben keine Welt.
Der weiche Gang geschmeidig starker Schritte,
der sich im allerkleinsten Kreise dreht,
ist wie ein Tanz von Kraft um eine Mitte,
in der betäubt ein grosser Wille steht.
Nur manchmal schiebt der Vorhang der Pupille
sich lautlos auf. - Dann geht ein Bild hinein,
geht durch der Glieder angespannte Stille -
und hört im Herzen auf zu sein.
Das Gedicht, das mir in seiner Schönheit und Vollendung das liebste ist: